12. September 2020

Zweite Covid-19 Welle – wirklich?

Heute titelt die NZZ einen ausführlichen Kommentar zur Ausbreitung von Covid-19 mit «Die zweite Corona-Welle ist da». Da haben wir’s. Jetzt ist es soweit. Aber was genau ist denn passiert? Wir sehen einen Anstieg der Fallzahlen. Ja. Eine Linie, die langsam, ja linear, nicht wirklich exponentiell, ansteigt. Unter einer Welle verstehe ich eigentlich etwas anderes. In der gleichen Ausgabe plädiert Stefan Kuster vom BAG sehr besonnen für einen sorgsamen, aber von Angst befreiten Umgang mit Covid (link). Doch was die NZZ in der gleichen Nummer präsentiert, führt uns nicht in die Normalität. Je länger je mehr bin ich der Meinung, dass die Form der medialen Berichterstattung das wichtigste Problem bei der Bewältigung der Covid-Krise darstellt.

Atemwegserkrankungen Saisonal
Was wir jedes Jahr als «Welle» erkennen können, ist das gehäufte Auftreten von Infektionen der Atemwege. Für einige ältere Menschen, kann eine solche Erkrankung limitierend werden und zum Tode führen. Für die betroffenen Familien ist jeder dieser Todesfälle tragisch. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich bei der Nachricht vom plötzlichen Tod meiner Mutter während der Grippesaison in Tränen ausbrach. Und doch, gehört auch dieser Tod zum Leben. Jede Woche sterben in der Schweiz etwas mehr als 1300 Menschen. In den Wintermonaten sind es einige Hundert Todesfälle mehr pro Woche, im Sommer weniger. Es ist nicht nur die Grippe (Influenza), es sind auch andere Infektionskrankheiten, welche für diese saisonale Verteilung der Todesfälle verantwortlich sind.

Aber jetzt steigen doch die Zahlen…
werden Sie mit Recht einwenden! Unbestritten, wir sehen einen Anstieg der Fallzahlen, mitten im Sommer! Wenn wir die Fälle seit dem 1. Juli 20 grafisch aufzeichnen (link), dann hat man wirklich nicht den Eindruck, dass es sich um einen exponentiellen Anstieg der Fallzahlen handelt. Was könnte es denn sonst sein? Besonders eindrücklich wird es, wenn wir die Fallzahlen den Hospitalisationen gegenüber stellen. In der untenstehenden Abbildung wird offensichtlich, dass während der ersten Welle tatsächlich die Hospitalisationen mit den Fallzahlen parallel verliefen (beachte unterschiedliche Achsenbeschriftung). Doch bei der zweiten «Welle» sehen wir keinen relevanten Anstieg der Hospitalisationen.

Was ist es denn, was wir aktuell beobachten?
Wie so oft bei wissenschaftlichen Diskussionen, wird auch die Antwort auf diese Frage nicht eindeutig ausfallen. Diskutiert wurden in den Medien ja verschiedene Aspekte. Ich konzentriere mich auf die Diskussion der beiden (m.E.) wichtigsten Faktoren:

  1. Ein Anstieg der Testaktivität, und vermutlich auch
  2. Eine Veränderung der betroffenen Personen

Die erste Hypothese ist naheliegend: Wir wissen, dass im Frühjahr lediglich ca. 10% aller Infektionen diagnostiziert wurden. Wenn wir also, wie dies gefördert wird, unsere Testaktivität massiv erhöhen, haben wir auch die Chance, mehr milde Erkrankungen zu diagnostizieren. Doch, diese Antwort kann nicht die einzige Lösung sein. Wenn wir die Testaktivität in der Schweiz in den Monaten März/April mit den zwei letzten Monaten vergleichen, so hat sich die Testzahl in der zweiten Periode nicht einmal verdoppelt: Wir beobachten einen Anstieg von 34’000 auf 50’000 Tests pro Woche (Quelle: bag.admin.ch, 12.9.12). Alleine dieser „Verdünnungseffekt“ kann es nicht sein.

Die Epidemiologie verändert sich
Die zweite Hypothese finde ich viel attraktiver, vielleicht weil sie nur selten diskutiert wird. Doch wir wissen von sehr vielen Infektionskrankheiten: Zu Beginn ihres Auftretens erschrecken wir immer wieder wegen der vermeintlich schweren Problematik und je länger wir hinschauen, desto «gutartiger» wird die Erkrankung. Eine diesbezüglich sehr informative Arbeit wurde kürzlich von Autoren aus Oxford und Edingburgh eingereicht (Aquas et al, 31.8.20, preprint, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.07.23.20160762v2). Diese Epidemiologen zeigen auf, dass das Konzept der Herdenimmunität nicht korrekt ist, um abzuschätzen, wie sich die Epidemie entwickelt. Unsere ganzen epidemiologischen Konzepte der Herdenimmuniät wurden entwickelt, um die Wirksamkeit einer Impfkampagne zu beurteilen. Doch die Ausbreitung einer neuen Infektionskrankheit folgt anderen Gesetzmässigkeiten.

Die Bevölkerung ist viel früher geschützt als bisher angenommen
Die Autoren diskutieren eine sehr interessante Hypothese: Am Anfang einer Infektionskrankheit erwischt es immer diejenigen die am «stärksten» empfänglich sind. Bei Covid-19 sind dies zweifelsohne die Menschen über 85 Jahre. Ihr Immunsystem hat keine Reserve – sie werden zuerst betroffen. Aber es sind auch vor allem die Menschen, die aufgrund ihrer Kontakte mehr Chancen haben, überhaupt angesteckt zu werden. So sind Bewohner eines Altersheims eher betroffen als Senioren im Eigenheim. Und parallel dazu bildet sich eine Population auf, die eine eine zelluläre Immunantwort entwickelt. Diese Form der Immunantwort beschränkt sich eben nicht nur auf die Antikörper (wie bei der Herdenimmunität bei Impfungen), sondern umfasst auch den Aufbau einer zellvermittelten Immunantwort. Diese hilft dem Körper bei einem Kontakt  mit dem Virus, rascher eine schützende Abwehr aufzubauen, die das Virus schneller unschädlich macht (siehe frühere Mitteilungen).

Basierend auf dieser neuen Hypothese eines dynamischen Aufbaus der Immunität nebst der Abschwächung der Gefährdungslage über die Zeit, berechnen sie die Ausbreitung von Covid-19 neu. Indem sie die Variabilität der Empfänglichkeit von einzelnen Personen in die Modelle einbeziehen, erhalten sie eine neue Definition für die «Herdenimmunität» bei der sich ausbreitenden Covid-19 Epidemie. Ihre Resultate postulieren, dass eine Immunität von  10-20% der Bevölkerung bereits einen relevanten Einfluss auf das Fortschreiten einer neuen Infektionskrankheit wie Covid-19 haben könnte. Das würde einige unserer Beobachtungen der Fallentwicklungen erklären.

Wir bleiben dran!
Bleiben wir unserem Grundsatz treu: Science first! Wenn die Autoren recht haben – es ist noch eine Hypothese – dann wäre dies tatsächlich eine sehr gute Erklärung für das in vielen Ländern beobachtete Auseinanderdriften von Infektions- und Hospitalisationsfallzahlen. Und wir müssten unsere Erwartungen zur Covid-Epidemie neu überdenken. Und vielleicht auch unsere Massnahmen.
Auf jeden Fall können wir im Moment nicht von einer zweiten Welle sprechen. Und Einiges spricht dafür, dass wir auch im nächsten Jahr keine massive Übersterblichkeit beobachten werden. Alles kommt gut!

Foto von 88rabbit

16.9.20: ich bedanke mich bei der Leserin, die mich auf unklare Formulierungen aufmerksam gemacht hat, insbesondere beim Passus Zelluläre Immunantwort

19.9.20: Ebenso bedanke ich mich bei der Leserin für den Hinweis, dass ich beim Zitat der Wöchentlichen Test-Zahl versehentlich Tages-zahlen eingesetzt hatte. Inhaltlich ist die Aussage unverändert: Die Anzahl Testungen hat sich über die Zeit nicht einmal verdoppelt.