Gesundheitspolitik ohne Evidenz – Beispiel Geschlechtskrankheiten
Unter dem Titel „Was Zürich kann, können wir auch“ fordern nun St. Galler Kantonsräte, angeführt von Andreas Bisig (GLP) Gratis-Tests für sexuell übertragbare Krankheiten (Tagblatt 7.9.23). Auf den ersten Blick, werden die Zeitungsleser*innen denken, das sei das doch eine smarte Idee des jungen GLP Politikers. Doch schauen wir uns die Grundlagen zu diesem Vorstoss an.
Geschlechtskrankheiten können übertragen werden
Daran ist kein Zweifel: Beim Geschlechtsverkehr kann eine klassische Geschlechtskrankheit auf Partner*innen übertragen werden. Dies auch dann, wenn die infizierte Person keine Symptome hat (allerdings eher seltener als beim Vorliegen von Symptomen). Das bringt uns auf den kritischen Punkt: Eine infizierte Person, die selbst keine Symptome hat, sieht keinen Anlass, sich testen zu lassen. Daher hatte die Klinik Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen vor über 10 Jahren vorgeschlagen, dass man sich überlegen soll, eine Testung auf Geschlechtskrankheiten von der Krankenkassen-Franchise befreien zu lassen. Denn es stellt sich die Fragen, ob sich eine solche Testung von symptomlosen Personen überhaupt lohnt? Denn jeder Testaufwand ist mit Kosten verbunden. Und gerade Politiker sollten sich bei jedem Entscheid (auch im Gesundheitswesen!) gut überlegen, ob die Intervention auch effizient sei.
STAR-Studie gibt Antwort
Unser Studienteam in St. Gallen hat in den Jahren 2016 und 17 die Frage der Effizienz einer Testung auf Geschlechtskrankheiten im Rahmen einer gesamtschweizerischen Studie untersucht. BAG und Krankenkassen unterstützten das Anliegen. An der Studie hatten sich einige Zentren in der Schweiz beteiligt. Ein Labor half uns, solche Abklärungen kostengünstig zu gestalten. Die Antworten lassen sich einfach zusammenfassen:
- Ein Testung auf Syphilis, Gonorrhoe, HIV ist sinnvoll bei Personen, mit erhöhtem Risiko einer solchen Infektion
- Ein relevantes Risiko, welches eine solche Testung als sinnvoll einstuft, findet sich allerdings nur bei
- Männern, die Sex mit Männern und drei oder mehr Sexualpartner pro Jahr haben
- Sexarbeiterinnen (vermutlich auch bei Sexarbeitern, aber die Datenlage ist zu gering)
- Sicher wissen wir aus dieser Studie, dass das Alter hier kein relevanter Risikofaktor ist. Auch für über 25-Jährige ist die Testung gegebenenfalls sinnvoll.
Die Studienresultate wurden vorzeitig in den Tagesmedien publiziert (z.B. Sonntagszeitung 13. Aug. 2018), wurden im Nationalrat bekannt (Interpellation Barbara Gysi, 20.9.2018) und wurden nach dem „peer-review“ in zwei wissenschaftlichen Arbeiten publiziert (Schmidt et al, 2020, Vernazza et al, 2020). Eigentlich sollten die St. Galler Kantonsräte, welche diesen Vorstoss im September in den Rat bringen wollen, diese Resultate kennen.
Empfehlungen in St. Gallen längst umgesetzt
Das Gesundheitsdepartement St. Gallen stand seit der Lancierung der STAR-Studie eng mit den Studienverantwortlichen im Kontakt. Die Resultate wurden in St. Gallen sofort umgesetzt: Der Kanton unterstützt sinnvolle Konzepte, welche in den Zielgruppen den Zugang zu diesen wichtigen Tests erleichtern. Eine Ausweitung der Testungen auf Personen mit geringem Risiko wäre höchst ineffizient. Die Politiker wären gut beraten, sich in solchen Fragen zuerst bei Fachpersonen zu informieren, bevor sie einen solch unreflektierten Vorstoss machen. Vorstösse zu schreiben, um junge Wähler zu bewegen, einen bestimmten Namen auf die NR-Wahlliste setzen, ist keine seriöse Politik.
Nationale Strategie folgt der STAR-Studie
Das erklärte Ziel der STAR-Studie war es ja herauszufinden, ob eine Franchisenbefreiung für gewisse Tests sinnvoll sei. Als Resultat dieser Bestrebungen wird nun am BAG intensiv nach entsprechenden Möglichkeiten gesucht. Solche Prozesse sind komplex und benötigen ihre Zeit. Corona hat dabei nicht geholfen. Man darf allerdings davon ausgehen, dass dieses langfristige Ziel noch erreicht wird.
Notwendige Korrekturen
Im erwähnten Zeitungsartikel findet sich eine Abbildung mit Blutröhrchen, die mit HCV, HIV, HBV und Syphilis angeschrieben sind. Das sind Bluttests, aber nicht alle sollten gemäss den Resultaten der STAR-Studie auch bei den genannte Personen mit erhöhtem Risiko durchgeführt werden. So hat sich gezeigt, dass eine Hepatitis-C-Infektion (HCV) nicht wirklich zu den sexuell-übertragenen Krankheiten gehört. Auch eine Testung auf Hepatitis B (HBV) ist nicht sinnvoll, hier sollte eher eine lebenslang schützende Impfung empfohlen werden. Und die HIV-Infektion ist bei Sexarbeiterinnen wirklich eine grosse Seltenheit (praktisch nur bei früherem Drogenkonsum). Wichtig ist eigentlich nur der Bluttest auf Syphilis. In St. Gallen haben den HIV-Test bei Sexarbeiterinnen dennoch angeboten, weil der Test einen grossen Symbolwert hat und die Personen auch zur Blutentnahme motiviert.
Und wie ist das mit den steigenden Zahlen, wie das die Interpellanten schreiben:
- Chlamydien: Häufigkeit des positiven Resultes über Jahrzehnte stabil. Sogar fraglich, wie gross der Beitrag der sexuellen Aktivität ist. Die Behandlung von Personen ohne Symptome könnte kontraproduktiv sein (Verhinderung einer Immunantwort, Batteiger, 2020).
- Gonorrhoe (Tripper): Die Zahl der Diagnose steigt zwar leicht, doch das BAG zeigt in den Analysen deutlich, dass dies eher ein (gewünschter) Effekt der intensivierten Testung im Nachgang zur STAR-Studie bei Personen mit erhöhtem Infektionsrisiko ist (BAG-Bulletin 7.11.22).
- Auch bei Syphilis zeigt sich der (erwünschte) Effekt einer intensivierten Testung bei Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko
- HIV: Die Anzahl neuer Infektionen sinkt seit 2010 kontinuierlich, ein Resultat der BAG-Strategie mit früher Testung und guter Therapiedurchführung
Wer profitiert von der Testung?
Ein intelligent und effizient durchgeführtes Testkonzept hilft, die Folgen der Erkrankungen wirksam zu senken. Das hilft den Betroffenen aber auch der Gesellschaft. Ingesamt werden Kosten aber auch das Erkrankungs-Risiko von uns allen reduziert. Den Effekt der gezielten Testung hat das BAG mit der Umsetzung der STAR-Strategie deutlich gezeigt.
Eine solche Intervention muss aber auch wirtschaftlich sein: Eine Ausweitung auf junge Personen ohne relevantes Erkrankkungsrisiko hilft nur den Anbietern der Labortests, den Laboratorien und den Teststellen. Es ist nicht Aufgabe der Politik, solche Partikularinteressen zu unterstützen. Daher ist es wichtig, dass auch Politiker ihr Handeln evidenzbasiert gestalten. Alles andere ist Stimmenfängerei.
Fragwürdiger Verweis auf Andere
Noch ein Kommentar zur zitierten Aussage im Tablatt-Titel („Was Zürich kann, können wir auch“). Nur wenn ein anderer Kanton (oder ein anderes Land) etwas beschliesst, dann heisst das noch lange nicht, dass dies eine gute Idee ist. Ich erinnere an die Covid-Erfahrung: Da haben Entscheidungsträger immer und immer wieder das beschlossen, was auch im benachbarten Ausland oder für die WHO galt, respektive was die Medien uns als „richtig“ präsentiert haben, ohne die eigentliche Evidenz für die Massnahmen zu prüfen. Es ist Zeit, dass wir unser Handeln diesbezüglich etwas kritischer gestalten. Nicht alles was andere tun, ist sinnvoll.
Und mein persönlicher Kommentar
Bei der Beurteilung von Politikern sollte man vermutlich eher darauf bedacht sein zu überprüfen, wie fundiert deren Aussagen sind. Denn letztendlich wollen wir doch Politiker, welche ihre Entscheidungen im Sinne der gesamten Gesellschaft sorgfältig prüfen und auf wissenschaftliche Evidenz abstützen. Gerade von der GLP, welche sich gerne als „evidenzbasierte“ Partei ausgibt, hätte ich mehr Recherche erwartet.
Bildnachweis: Pixabay „Rattenfänger von Hammeln“ (Der Rattenfänger sammelt seine Anhänger mit den Pfeifenklängen, und der Politiker?)