Wie viel Kalk erträgt das Herz eines HIV-Patienten?
Das Ausmass von koronarem Kalk (CAC), kann Auskunft geben über das biologische Alter eines Menschen. Ob die Messung des CAC bei HIV-Patienten von nutzen sein kann, fragten sich die Autoren einer im CID veröffentlichten Studie.
Koronarer Kalk macht die Gefässe am Herzen eng und ist Ausdruck für die arteriosklerotischen Veränderungen im gesamten Organismus und somit indirekt für das «biologische Alter» des Körpers. Mittels Computertomografie kann der Koronarkalk (CAC / coronary artery calc) eines Menschen gemessen werden. Basierend auf verschiedenen Studien wurden Perzentilenkurven errechnet, die die «Normalverteilung» des koronaren Kalkes in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Herkunft widerspiegeln. Je weiter ein Individuum von der altersentsprechenden CAC-Kurve abweicht, desto mehr streben biologisches und chronologisches Alter auseinander – «sie sind 50 Jahre alt, aber ihr Herz ist 65».
Seit Einführung der hoch aktiven HIV-Therapie (ART) Mitte der Neunzigerjahre ist die HIV-Erkrankung zu einer chronischen Krankheit geworden. Nicht mehr das akute Überleben der Patienten, sondern vielmehr die Langzeiteffekte der chronischen Infektion und die Langzeitnebenwirkungen der ART sind in den Fokus gerückt. Die chronische Immunstimulation durch den (unkontrollierten) Virus und Stoffwechselveränderungen – insbesondere im Lipidhaushalt – können zu einer frühzeitigen Alterung des Organismus und zu kardiovaskulären Komplikationen führen. Es wird allgemein der Begriff «immunosenescence» gebraucht.
HIV-Patienten sind älter
Die Autoren einer im September dieses Jahres im CID veröffentlichten Studie, stellten sich die Frage, ob HIV-Patienten per se ein fortgeschrittenes «CAC-Alter» aufweisen. Und wenn ja, ob es Prädiktoren gibt für ein höheres koronares Alter sowie mögliche kardiovaskuläre Ereignisse in der Zukunft. Es wurden 400 Patienten einer italienischen HIV-Kohorte in mittels Computertomografie untersucht. Die Patienten standen alle unter ART und hatten, falls vorhanden, seit Längerem eine Therapie für Diabetes, arterielle Hypertonie oder Dyslipidämie. Die Resultate zeigten, dass rund 40% der HIV-Patienten ein «koronares Alter» aufwiesen, das über ihrem chronologischen Alter lag. Wie zu erwarten, waren die koronaren Kalkablagerungen umso häufiger, je mehr kardiovaskuläre Risikofaktoren vorlagen (arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, Nikotin, Diabetes, BMI etc.). Erstaunlicherweise korrelierte der abgelagerte Kalk mit einer höheren CD4-Zellzahl. Dies ganz im Gegensatz zu anderen Studien, die bei tiefen CD4-Zellen vermehrt arteriosklerotische Veränderungen gefunden hatten. Es fand sich keine Assoziation zur Dauer der ART, Exposition mit PI, CD4-Nadir oder früherem AIDS. Die Autoren postulieren, dass das Risiko für koronare Veränderungen möglicherweise einen U-förmigen Verlauf zeige: Auf der einen Seite erhöhtes Risiko bei schlechter Immunlage, hoher Viruslast und entsprechend ausgeprägter Immunstimulation und auf der anderen Seite die CD4-Rekonstitution mit potenteren T-Zellen, welche durch eine Cytokin-Aktivierung ebenfalls zu einer entzündlichen Stimulation und, als Folge davon, zu einer Veränderung der Gefässwände führen könnte. Sie schlagen denn auch vor, in künftigen Studien zusätzlich T-Zellfunktionstests durchzuführen und Entzündungsmarker zu messen, um diese Hypothese zu bestätigen.
Vorbehalten und Fragen
Bei der Studie handelte es sich um eine «cross-sectional study», also nur um eine Momentaufnahme, die keine Dynamik aufzeichnen kann, was sicherlich von Interesse wäre. Auch wirft die überraschende Beobachtung, der vermehrten Verkalkung bei höherer CD4-Zellzahl viele Fragen auf bezüglich Ziel der ART, Zeitpunkt eines Therapiestarts und aggressiverem Vorgehen bei bestehenden kardiovaskulären Risikofaktoren. Die Studie war nicht dazu angelegt, diese Fragen zu beantworten. Auch wird nicht ganz klar, ob ein Selection-bias besteht, da die Patienten an einer «cardiometric clinic» rekrutiert wurden. Die Messung der koronaren Kalkablagerung als Korrelat zum biologischen Alter, entsprechend einem Surrogat-Marker, kann bei der Beurteilung und Betreuung chronisch kranker HIV-Patienten hilfreich sein. Aus Kosten- und Strahlenschutzgründen ist die routinemässige Anwendung aber höchst fraglich.
Quelle: Guaraldi G et al. Coronary Aging in HIV-Infected Patients, CID Sept. 2009