So ist es!

Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen!
Die Medizingeschichte ist voll von Mythen. Was Galen und Vesal lehrten war Dogma und wird heute belacht. Wie wurde eine Idee zum Mythos? Was sagt ein Mythos über uns aus? Ein Mythos ist geprägt durch den Denkstil seiner Zeit. Ihn vom Sockel zu stossen braucht Mut.

Diese Vortragsunterlagen werden nicht veröffentlicht. Die Zusammenfassung finden sie hier.

Frau PD Dr. Iris Ritzmann, Medizinhistorisches Institut Zürich 

Eine Medizingeschichte voller Mythen
Frau PD Dr. Ritzmann, ausgebildete Historikerin und Ärztin am Medizinhistorischen Institut in Zürich, nahm uns mit auf eine spannende Reise zurück in die Medizingeschichte. In eine Zeit, in der vor allem Männer das Sagen hatten, Männer nach der Wahrheit suchten, alten Wahrheiten nachhingen, Mythen über Bord warfen und neue Dogmen aufstellten. Die Medizingeschichte sei voll von Mythen, fast nichts sei kein Mythos. Angefangen beim Hippokratischen Eid, der weder von Hippokrates stamme (über den Ursprung ist wenige bekannt) noch rechtlich bindend sei, auf den man sich aber dennoch immer wieder berufe (Sterbehilfe, Abtreibungen etc.).

Über Irrlehren und Heldentaten
Frau Ritzmann zeigte der Hörerschaft auf – schrittweise durch die Jahrhunderte in die Gegenwart schreitend –, wie grosse Errungenschaften erst erlangt wurden durch Hinterfragen des bis dahin allgemein Gültigen. Wie Wahrheiten zu Mythen, «populären Fehlmeinungen» wurden. Wie Ärzte mit heute grossen Namen Irrglauben nachhingen und diese erst Jahre später erkannten und bestenfalls revidierten.
Ein «schönes» Beispiel hierfür ist die lange gelehrte Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts: Als Sünderin geboren, aus der Rippe des Mannes entstanden, diesem seelisch und körperlich unterlegen, anfällig fürs Diabolisches, von Dämonen besetzt und zur Hexe verurteilt. Die monatlich reinigende Blutung und Schwangerschaft als Zeichen hormoneller Schwäche und Anfälligkeit für Krankheit. Dagegen Testosteron als Quell von körperlicher und geistiger Stärke. Noch Vesal (1541–1564) lehrte seine Studenten eine Anatomie des weiblichen Genitales, das dem Manne zwar ähnlich sei in der Anlage, aber rudimentär und nicht ausgereift. Das Bild der Uterushörner, eine Vorstellung, die Galen (129–199 n. Chr.) Jahrhunderte vorher geprägt hatte, übernahm Andreas Vesal (1514-1564) kritiklos. Giambattista Della Porta (1535–1615) illustrierte in seiner «De humana physiognomia» detailgetreu die hässliche Fehlanlage der weiblichen Fettleibigkeit und Unproportion.

Der grosse Neurologe und Psychiater Paul Moebius (1853–1907) unterstrich in «Der physiologische Schwachsinn der Frau» die zur Degeneration bestimmte Anlage des Weibes. Er verglich das weibliche Gehirn dem «Negerhirn»; beide mit Zeichen degenerativer Veränderung. Die Lehre setzte sich fort in der Eugenik der 1920er-Jahren, welche die Erbanlagen der Frau weiterhin als schwach bewertete.

Der Denkstil als Ausdruck des Zeitgeistes
Diese Gelehrten erscheinen heute als Opfer ihrer Zeit. Sie waren in Denkwelten gefangen. Der polnisch-jüdische Mikrobiologe und Arzt Ludwik Fleck (1896–1961), welcher die KZ-Greuel der Nationalsozialisten überlebt hatte und daselbst zu Typhus-Forschungen gezwungen worden war, prägte bereits 1935 den Begriff des «Denkkollektivs»: eine Gemeinschaft gedanklicher Wechselwirkung, die eine gerichtete Wahrnehmung, einen Denkstil prägten.
Oft brauchte es Jahre von der Erkennung einer Ursache bis zum Paradigmenwechsel. Die Miasma-Lehre beispielsweise, die Idee der «krankmachenden Luft», war Dogma über Jahrhunderte. Mit der Entdeckung des Koch-Bazillus 1882 (Mycobacterium tuberculosis) und später des Streptomycin als erstes Tuberkulostatikum verloren die Tuberkulose-Sanatorien – «eine riesen Maschinerie» – ihre Rechtfertigung und Grundlage. Manchmal brauchte es auch eine regelrechte «Heldentat» um aufzurütteln: Der erste Professor für Hygiene Max von Pettenkofer (1818–1901) schluckte 1892 vor einem wahrscheinlich entsetzten Münchner Publikum eine Brühe aus Cholerabakterien. Dies um seinem Widersacher Robert Koch zu beweisen, dass nicht der neu entdeckte Erreger Ursache sei für das Schlechtergehen der Einwohner der Stadt, sondern die schlechte Luft. Er erkrankte nicht, legte aber im Zuge der sich überschlagenden Ereignisse seine Professur nieder. Ein neueres Bespiel eines Selbstversuches hatte 1985 der australische Arzt Barry Marshall (* 1951) unternommen. Er infizierte sich selbst mit Helicobacter pylori, um zu beweisen, dass dieser Erreger Magengeschwüre verursache. 2005 erhielt er den Nobelpreis für diese Entdeckung.

Die Medizingeschichte ist voll von solchen Taten. Auch die Entwicklung der Impfungen im letzten Jahrhundert war eine Aneinanderreihung von Glauben und Irrglauben, Beobachtungen, Selbstversuchen, Experimenten und schliesslich Beweisen. Rückblickend sind diese Beispiele belustigend im schlimmsten Falle beängstigend. Dass aber auch heute «Forscher in Paradigmen gefangen» sind – auch sie Kinder ihrer Zeit – ist nicht von der Hand zu weisen. Frau Ritzmann schloss ihre Zeitreise zurück in die Gegenwart mit einigen Fragen, die zum Nachdenken anregen: Wie unabhängig sind Forschung und Wissenschaft heutzutage? Welchem Irrglauben sitzen wir auf? Wie ist unsere Wahrnehmung durch Kontext und Mythenglauben geprägt? Was sagen Mythen über uns aus? Und was, wenn wir behaupten, mit Mythen aufzuräumen?

Für Fragen zum Vortrag wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Iris Ritzmann: iritz@mhiz.uzh.ch