HIV-Therapie: Wie der neue Integrasehemmer Raltegravir den Turbo zündet

Der neue Integrasehemmer Raltegravir verblüfft durch seinen ausgesprochen raschen Abfall der Viruslast. Was sind die Gründe für diese "übernatürliche" antivirale Potenz?

Verglichen mit Efavirenz führt Raltegravir – jeweils kombiniert mit Lamivudin (3TC) und Tenofovir – signifikant schneller zu einer vollständig supprimierten Virämie (HIV-RNA <50 Kop./ml, s. Abb. re). Die dabei zu beobachtende Kinetik stellt die bisherigen Modelle der langsameren 2. Phase der HIV-Elimination in Frage.

Klassischerweise hat der Rückgang der HIV-RNA im Blut unter antiretroviraler Therapie einen biphasischen Verlauf: Die schnellere 1. Phase zeigt eine durchschnittliche Halbwertszeit von 0,9-1,6 Tagen und erstreckt sich über die ersten 7-10 Tage. Die langsamere 2. Phase weist eine mittlere Halbwertszeit von 14 Tagen auf und führt bei erfolgreicher Therapie zur Suppression der HIV-RNA unter die Standard-Nachweisgrenze von 50 Kop./ml.

In einer von Murray et al. im AIDS 2007, 21:2315-2321 publizierten, randomisierten Phase II-Studie erhielten >=18jährige, bislang nicht antiretroviral behandelte HIV-Positive (HIV-RNA >=5000 Kop./ml, CD4-Zellzahl >=100/ul) in einem 1. Teil eine 10tägige Monotherapie mit entweder Raltegravir (2x täglich 100, 200, 400 bzw. 600mg) oder Placebo (5 Gruppen zu je ca. 8 Patienten). Bei den mit Raltegravir behandelten Patienten fand sich – unabhängig von der Dosis – ein deutlicher monophasischer Rückgang der HIV-RNA um im Mittel 2,2 log10 Kop./ml. Die durchschnittliche Halbwertszeit der hier untersuchten 1. Phase der HIV-Elimination lag bei 1,2 Tagen (kein signifikanter Unterschied zwischen den 4 Dosisgruppen).

Im separaten 2. Teil der Studie wurden 150 zusätzliche Patienten für eine 48wöchige Kombinationstherapie eingeschlossen, wobei auf eine der 4 Raltegravir-Dosierungen oder Efavirenz (600mg täglich am Abend) – jeweils in Kombination mit Lamivudine (3TC) (300mg 1x täglich) und Tenofovir (300mg 1x täglich) – randomisiert wurde (5 Gruppen zu je ca. 40 Patienten). In allen 4 Raltegravir-Gruppen wurde die Suppression der HIV-RNA unter die Nachweisgrenze schneller erreicht als in der Efavirenz-Gruppe. Von Therapietag 15 bis 57 hatten Patienten im Raltegravir-Arm eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit vollständig supprimiert zu sein (HIV-RNA <50 Kop./ml) (p<=0,047). Da zwischen den 4 Raltegravir-Dosierungen keine Unterschiede erkennbar waren, wurden die 4 Gruppen im Folgenden kombiniert analysiert. Bis Therapietag 168 war die HIV-RNA in der kombinierten Raltegravir-Gruppe signifikant niedriger. Im Mittel fiel die HIV-RNA zwischen Therapietag 1 und 15 bei den kombinierten Raltegravir-Patienten von 58.350 auf 98 Kop./ml und in der Efavirenz-Gruppe von 70.200 auf 537 Kop./ml. Zwar waren die Halbwertszeiten der 2. Phase der HIV-Elimination (lineare Regression der HIV-RNA log10 Kop./ml Tag 15 bis 1. Zeitpunkt mit HIV-RNA <50 Kop./ml) für Patienten im Raltegravir- und Efavirenz-Arm nicht signifikant verschieden (15,5 versus 18,3 Tage, p=0,2). Zu Beginn der 2. Phase lag die HI-Viruslast in der kombinierten Raltegravir-Gruppe jedoch um 70% tiefer als in der Efavirenzgruppe (p<0,0001), was für einen ausgeprägteren Virusabfall in der 1. Phase spricht.

Raltegravir Sanctuary Site Modell

Dass Raltegravir somit auch eine Reduktion der Virusproduktion in der 2. Phase der HIV-Elimination bewirkt, ist überraschend. Bisher wurden folgende Hypothesen aufgestellt, woher das für die Viruslast in der 2. Phase verantwortliche Virus stammen könnte:
a) Virusproduktion durch langlebige, infizierte Zellen,
b) Virusdissoziation von follikulären dendritischen Zellen oder
c) Virusproduktion durch produktive, infizierte CD4-Zellen, die sich infolge der abfallenden HIV-Antigen-Spiegel dem Immunsystem des Wirts entziehen.


Keines dieser Modelle, in denen entweder die Ursprungszellen des Virus bereits infiziert sind bzw. Virus bereits produziert, aber an den dendritischen Zellen gebunden vorliegt, liesse sich durch die Wirkungsweise eines Integrasehemmers beeinflussen. Diese blockieren die Integration proviraler HIV-DNA in die DNA der Wirtszelle und verhindern somit – nach bereits erfolgter reverser Transkription der HIV-RNA – eine produktive Infektion der Zelle.

 

Um nun die Wirkung von Integrasehemmern auf die Virusproduktion in der 2. Phase der HIV-Elimination erklären zu können, stellten die Autoren 3 neue Hypothesen auf, welche sie testeten, in dem sie entsprechende mathematische Modelle mit der in der Studie beobachten HIV-Kinetik unter Raltegravir-Therapie verglichen.

 

Modell 1:
Die neue produktive Infektion (I; blaue Linie), welche das Virus (V) der 2. Phase generiert, geht von langlebigen, infizierten Zellen (M; grüne Linie) aus. Letztere weisen die langsame Zerfallsrate auf, welche in dieser Phase beobachtet wird, und übertragen diese Dynamik auf neu infizierte Zellen und das Virus der 2. Phase. Der Integrasehemmer (durchgezogene Linie) hat gegenüber Reverse Transkriptase- und Protease-Hemmern einen zusätzlichen hemmenden Effekt auf die von langlebigen infizierten Zellen ausgehende neue produktive Infektion, so dass er die HI-Viruslast der 2. Phase stärker senkt als Efavirenz (gestrichelte Linie).

Modell 2:
Während der Integrasehemmer-Effekt in Modell 1 theoretisch durch potentere Reverse Transkriptase- oder Protease-Hemmer imitiert werden könnte, simuliert Modell 2 einen Infektionsprozess, welcher durch die herkömmlichen HIV-Medikamente nicht beeinflussbar ist. Das Virus der 2. Phase stammt hier von latent infizierten Zellen mit nicht integrierter viraler DNA (D; rote Linie) (DNA = roter Balken), welche aktiviert werden und damit in produktive, infizierte Zellen (I; blaue Linie) konvertieren.

Hypothetische Modelle für Kinetik unter Integrasehemmern

Sowohl Modell 1 als auch 2 liefern eine konsistente Erklärung für die unter Raltegravir beobachteten Effekte. Die in beiden Fällen resultierende Zunahme von nicht-integrierter HIV-DNA scheint sich auf die Überlebensfähigkeit der Zellen nicht negativ auszuwirken.

Modell 3:
Dagegen war das dritte Modell, bei dem die bessere Wirksamkeit des Integrasehemmers auf eine bessere Penetration von "sanctuary site" und Wirkung auf die dortigen produktiven, infizierten Zellen (IS; grüne Linie) zurückgeführt wurde, weniger gut mit der Realität vereinbar. Verglichen mit Efavirenz zeigte dieses Modell für den Integrasehemmer eine kürzere Halbwertszeit bzgl. der Viruselimination in der 2. Phase, welche in der Studie nicht beobachtet werden konnte (dort kein signifikanter Unterschied).

Unter antiretroviraler Therapie nimmt der Pool latent infizierter Zellen langsam ab, mit einer Halbwertszeit von 6-44 Monaten, woraus für die vollständige Viruselimination  Schätzungen zwischen 8 und >60 Jahre resultieren. Die Abnahme des latenten Pools ist dabei von der residuellen viralen Replikation abhängig. Indem der Integrasehemmer Raltegravir auf virale Komponenten wie die nicht-integrierte HIV-DNA wirkt, welche durch die bisherigen HIV-Medikamente nicht beeinflusst werden konnte, erhöht er die Effektivität der antiretroviralen Therapie und könnte somit den Zerfall des latenten Pools beschleunigen. Immerhin übertrifft in ruhenden CD4 T-Zellen die Gesamt-HIV-DNA die integrierte HIV-DNA um das 100fache.

Raltegravir wurde am 12. Oktober 2007 im Fast-track Verfahren in den USA durch die FDA zugelassen. (Link)

Quelle: Murray et al, AIDS 2007