Die nicht-abbrechende Epidemie

HIV-update 2004: Diagnostik und Therapie
PD Dr. P. Vernazza, Kantonsspital St. Gallen
Kommentar aus der Praxis: Dr. C. Niederberger, Wil
 

In seinem Referat über die „schleichende HIV Epidemie“ gab Pietro Vernazza einen Überblick über die aktuell wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit HIV. Dabei ging es im Sinne eines HIV-update um die für die Praxis relevanten Neuerungen auf dem Gebiet der Epidemiologie, Diagnose und Therapie der HIV Infektion

Epidemiologie

Seit 2 Jahren verzeichnet das HIV-Meldewesen des BAG einen leichten Anstieg der Meldungen von neu diagnostizierten HIV-Infektionen. Diese Meldungen sind nur zum Teil Ausdruck einer nachlassenden HIV-Prävention. Aufgrund der Verteilung von CD4 Werten bei diesen neu gemeldeten Patienten handelt es sich bei diesen neuen Meldungen um HIV Infektionen, die durchschnittlich etwa 8 Jahre zurückliegen. Es kam in den letzten 4-6 Jahren auch zu einer leichten Zunahme von neuen positiven HIV-Testugnen bei Personen aus Sub-Sahara-Afrika. Dennoch, eine leichte Zunahme bei homosexuellen schweizer Männern verhält sich parallel mit dem beobachteten Rückgang der Präventionsbemühungen in diesem Bereich.

Dennoch, wir sehen auch bei uns, insbesondere im Drogenbereich, eine bedenkenswerte Zunahme von neuen HIV-Infektionen. In einer Situation mit zunehmender HIV-Inzidenz gilt es wieder zu überdenken, in welchen Situationen HIV besonders häufig übertragen wird. Tatsächlich ist die HIV Infektiosität nicht stabil während einer HIV Infektion. Ein Zustand mit besonders hoher Ansteckungsgefahr besteht während einer akuten HIV Infektion, der zweite Zustand beim Vorliegen einer Geschlechtskrankheit. Daher ist es wichtig, dass beide Erkrankungen, die primäre HIV-Infektion und (asymptomatische) Geschlechtskrankheiten rechtzeitig erkannt werden. Zum Thema Geschlechtskrankheiten sei auf die beiden entsprechenden Referate von PD Dr. Lautenschlager und Dr. Anliker verwiesen.  

Akute HIV Infektion – daran denken!

Zur rechtzeitigen Diagnostik der HIV Infektion ist im Wesentlichen der initiale Gedanke an diese Möglichkeit entscheidend. 70% aller HIV-Infizierten hatten zu beginn ihrer Infektion eine akute Krankheitssymptomatik. Oft verwirft der Arzt die Möglichkeit einer HIV-Diagnose bei seiner initialen Beurteilung, z.T. wegen „fehlenden“, d.h. dem Arzt nicht bekannten Risikofaktoren. Wir sollten in diesen Situationen viel konsequenter nach einer HIV Infektion suchen.

Diagnostik

Die Diagnostik der akuten HIV Infektion basiert auf dem Nachweis des HIV Antigens, respektive der HIV-Antikörperantwort wenn schon etwas mehr Zeit verstrichen ist. Das neue HIV-Testkonzept 2004 der Schweiz schlägt vor, dass in Diagnostischen Laboratorien heute nur noch sogenannte HIV-DUO-Test, oder Tests der 4. Generation verwendet werden. Diese Testverfahren detektieren im gleichen Verfahren sowohl HIV-Antikörper wie auch HIV-Antigen.

Ebenfalls neu im HIV-Testkonzept ist die Empfehlung der Durchführung von HIV-Schnelltests. Dieser wurde am letzten  Infekttag vorgestellt. Die Empfehlung einer HIV-Testung während der Schwangerschaft wurde ebenfalls schon dort erwähnt. Entscheidend ist die Beratung während der Durchführung des Tests. Wie aus dem Kommentar von Dr. Niederberger deutlich hervorging, spielt der primärversorgende Arzt in dieser Situation eine ganz entscheidende Rolle.

HIV-Therapie

Die HIV-Therapie ist heute ein immer komplexer werdendes Gebiet. Auch heute noch ist die Frage, wann der beste Therapiebeginn sei, nicht endgültig geklärt. Im Moment wird empfohlen, den Therapiebeginn von der CD4-Zellzahl abhängig zu machen. Ein Therapiebeginn wird im Allgemeinen bei einem Abfall der CD4-Zellen unter 350 Zellen/ul erwogen. Aber auch Fragen der richtigen Kombination, der Vermeidung von Interaktionen und der optimierung der Medikamententreue sind heute die komplexen Herausforderungen an die spezialisierten Zentren. Wichtig aus der Sicht des Referenten ist das optimale Zusammenspiel von praktizierenden Ärzten und Zentrum bei der gemeinsamen Betreuung der Patienten. Der Spezialist ist bei der gesamthaften Betreuung der Patienten schlicht überfordert. Das Hauptanliegen des Spezialisten ist die Sicherstellung einer optimalen Therapie. Eine Therapie ist dann optimal, wenn sie die HIV-RNA Viruslast im Blut vollständig unterdrückt. Ist dies nicht der Fall, treten unweigerlich Resistenzen auf.

In der Schweiz sind wir im Moment in der glücklichen Lage, dass wir HIV-Resistenzen relativ gut unter Kontrolle haben. Nimmt die Prävalenz von resistentem virus zu, kommt es zu einer Zunahme von Übertragungen von primär resistenten Viren. Dies ist ein grosses gesundheitspolitisches Problem, da damit die gesamten Möglichkeiten einer Eindämmung der Epidemie nachlassen.

Ritonavir boosting für Protease-Hemmer: Cave Co-Medikation

Wir sollten also primär versuchen, eine HIV-Therapie entweder vollständig suppressiv durchzuführen oder dann abzusetzen! Eine wichtige Voraussetzung dazu ist der Aufbau einer optimalen Medikamententreue. Ein weiterer wichtiger Schritt ist aber auch die Einführung der sogenannten ritonavir-boosted Protease-Hemmer-Therapie. Protease-Hemmer können durch gleichzeitige Gabe von Ritonavir durch Interaktion im Cytochrom 450 Metabolismus auf sehr viel höherem Blutspiegel gehalten werden. Dies führt zu einer Verlängerung aber auch zu einer deutlich höheren Wirksamkeit der HIV-Therapie. Es ist sogar so, dass unter ritonavir-boosted Protease-Therapien praktisch nie Resistenzmutationen gegen die Protease-Hemmer beobachtet werden.

Das beliebte Ritonavir boosting hat weitreichende Konsequenzen für den Praxisalltag. Bei jedem Patienten, der Ritonavir erhält, muss für jede Co-Medikation sorgfältig untersucht werden, ob eine Interaktion im P-450 Metabolismus vorliegt. Wegen Nichtbachtens dieser Regel können gleichzeitig verabreichte Migränemittel mit Ergotamin zur Gliednekrose mit Amputation führen oder Ovulationshemmer ihre Wirksamkeit verlieren.

Nebenwirkungen und deren Vermeidung

Die wichtigsten Nebenwirkungen der HIV-Therapie umfassen die mitochondrialen Nebenwirkungen der Nukleosid-Analoga und die metabolischen Nebenwirkugnen von Protease Hemmern. Heute können durch geschickte Wahl der Nukleosid-Analoga die schweren mitochondrialen Nebenwirkungen mit Lipoatrohie aber auch Hepatischer Steatose, Pankreatitis, Polyneuropathie etc verhindert werden. Auch bei den Protease-Hemmern und den Non-Nukleosid Analoga muss gelegentlich individuell nach der besten Therapie gesucht werden. Strategien zur Reduktion der Belastung durch medikamentöse Nebenwirkungen umfassen den verzögerten Therapiebeginn, Versuche mit strukturierten Therapieunterbrüchen sowie die von uns kürzlich erstmals in einem Pilotversuch erfolgreich durchgeführte Reduktion der Therapie auf eine Protease-Hemmer-Monotherapie (mit ritonavir boosting, selbstverständlich). Ein Problem der Protease-Hemmer ist die Zunahme der Blutlipide unter den meisten Protease-Therapien. Eine mögliche Folge ist der langsame Anstieg der cardiovaskulären Ereignisse unter längerer Behandlung mit Protease-Hemmern (vgl. unseren früheren Bericht)

Die vollständige Präsentation des Vortrags von PD Dr. Pietro Vernazza (pdf-file) finden Sie hier