Von altem Volkswissen zur Wissenschaft – von der Seuche zur Infektion

Infektionen, Epidemien und Seuchen in ihrem tiefenpsychologischen Kontext:

Referat von PD Dr. med. Rolf Inderbitzi, LungenZentrum Klinik Hirslanden Zürich.

Seit der Aufklärung streben wir insbesondere in der Medizin beim Verstehen der Vorgänge in und um uns nach naturwissenschftlichen Erklärungen der Krankheitsbilder. Das Erleben der Krankheit ist aber nach wie vor – wie bei unseren Vorfahren – nicht wissenschaftlich motiviert oder begründet. Unser Krankheitserleben folgt ureigenen menschlichen Verhaltensmustern.

Eine Seuche wurde vor den Zeiten der Aufklärung als übermächtige, fremde und vor allem unerklärbare Bedrohung der Menschheit und des Einzelnen erlebt. Sie verursachte Angst – Angst nicht nur vor dem Tod, sondern Angst vor dem Verlust der Ganzheit, der Integrität der Menschheit und des Individuums. Als natürliche Reaktion folgte eine Kompensation des Verlusts der Ganzheit beziehungsweise des Heils. Diese Kompensation ist das Beschwören Gottes als Symbol des allumfassenden Ganzen um die verlorene Ganzheit, welches sich zum Beispiel  in den Mandalas mit ihrer klaren Symetrie und ihrem Zentrum äussert. Der Älpler-Betruf  – als verbales „Mandala“ – hat seine Bedeutung in derselben  Sehnsucht nach Ganzheit und Schutz im Ganzen.

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Abb.1: Tibetisches Mandala in harmonischem Aufbau, auf das Zentrum als Ganzheit gerichtet. Versinnbilichung des Strebens nach Harmonie.

Zur Erfassung und Verarbeitung reicht eine alleinige seelische Kompensation jedoch nicht – der Mensch strebt intuitiv nach Erklärungen des Unverständlichen. Diese Versuche des Fassbar-Machens resultieren in der Projektion der Gefahr bzw. Seuche auf etwas Vertrautes. Diese Vertraute kann symbolischen Charakter (z.B. der Teufel), oder im Sinne der Kausalität, welche in der Aufklärung aufkam, einen realen Charakter haben. Als Beispiel seien hier die Juden angeführt, welche fälschlicherweise für die Thyphusepidemien verantwortlich gemacht wurden. Durch diese Projektion wird eine Sinngebung in Gott erst wieder möglich, und Gott bleibt die Versinnbildlichkeit des Ganzen und unversehrt.

Dies lässt sich auch anhand der abenländischen Kunst gut illustrieren:

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Abb.2: Bruegel der Ältere (c.a.1525-1569) stellt in seinem Ölgemälde „Der Triumph des Todes“ (Museo del Prado, Madrid) dessen unverhüllte Schrecken dar: Alle werden von dem Tod heimgesucht, auch der Kaiser und stellvertretend für die Kirche ein Kardinal. Dass vom Künstler nicht der Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden dargestellt wurde, zeigt das Bedürfnis der damaligen Menschen, Trost in einer Gesamtheit zu suchen und zu finden. Trost spendet dieses Gemälde jedoch nicht: es ist aufgesplittert in verschiedene Handlungen, ein Zentrum, welches zur Gesamtheit führt, fehlt. ((c) Abbildung Web Gallery of Art)

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Abb.3: Anders zeigt sich die Situation bei Dürrer (1471-1528) in seinem Holzschnitt „Die vier Reiter der Apokalypse“ aus dem Zyklus der „Offenbarung des Johannes“ (Kupferstichkabinett Kunsthalle Karlsruhe). Die vier Reiter mit den Symbolen Pfeil und Bogen für die Seuchen, Schwert für den Krieg, Waage für den Hunger und zuvorderst der Tod (dessen Pferd unbeschlagen ist – als Ausdruck seiner „wilden“, unbeherrschbaren Willkür) werden von einem Engel über-„strahlt“, der auch den optischen Achsenmittelpunkt des Bildes bildet. Trotz der unbändigen Kraft der vier Reiter und des alles verschlingenden Hades im linken unteren Ecken ist hier Trost versprochen – ein Zirkelschluss zur Gesamtheit der Denkweise. ((c) Abbildung Web Gallery of Art)

Durch die Entdeckung der Krankheitserreger entfällt die Unbekannte und eine Projektion wird überflüssig. Vernunft ermöglicht auch erst die Bekämpfung von Infektionserkrankungen. Aber haben wir uns unsere Denkweise und seelischen Verarbeitungsstrategien der Bedrohung durch Seuchen tatsächlich verändert?

Epidemien werden immer noch als Bedrohung der Ganzheit empfunden – der Mensch hat sich emotional in dieser Hinsicht nicht verändert. Die Sichtweise durch die naturwissenschaftlichen Denkansätze hat sich jedoch verändert.  Dadurch entfällt der göttliche Aspekt und die Ganzheit scheint verloren – Emotionen und Intellekt haben sich entfremdet und stehen nun im Widerspruch. Im Unterbewusstsein bleibt trotz aller Naturwissenschaft die Frage nach dem „Warum“ – eine letzte Unsicherheit und Angst. Durch die naturwissenschaftlichen Erklärungen der Infektionserkrankungen und derer Dynamik ging das seelische Verarbeiten der Bedrohung verloren.

Dass wir heutigen, naturwissenschaftlich geprägten Menschen immer noch von diesen ursprünglichen Denkmustern geprägt sind und nach einer emotionalen Bewältigung streben, zeigt das aktuelle Beispiel von SARS – ein Thema, dass von den Medien vereinnahmt wurde und daher ein grosses Risikopotential der fälschlichen „Projektion“ in sich birgt, z.B. wenn von einer „chinesischen Krankheit“ gesprochen wird.

Nur wenn der Mensch seine Leiden auch wieder symbolisch verstehen lernt, ist eine seelische Integration zur Ganzheit möglich, und dann befinden wir uns auf dem Weg zur umfassenden Heilung.