Sars aus der Sicht des Oekonomen

Das heutige mail unseres „Korrespondenten“ aus Singapur Christoph Moellers befasst sich einmal mit der bedeutung von Sars aus ökonomischer Sicht.

Lieber Herr Vernazza 
Ich bin mir bewusst, dass infekt.ch ein medizinisches Forum ist. Dennoch versuche ich mal, SARS aus einer etwas anderen Sicht zu betrachten. 
Ökonomen suchen immer nach  rationalem Verhalten. Man kann sich also fragen, ob es sinnvoll und richtig ist, dass 99.99% der Einwohner
Singapurs (nach anfänglicher Unsicherheit) so weiterleben, als wäre nichts geschehen.
Letzthin habe ich gelesen, dass in der Schweiz jährlich 1″500 Menschen an den Folgen der Grippe sterben. Ich nehme an, es handelt sich um alte 
Menschen, Gebrechliche und solche, die ohnehin geschwächt sind. Junge und Gesunde dürften kaum betroffen sein. Und es drängt sich der Verdacht
auf, dass ähnliche Grössenordnungen in anderen Staaten durchaus üblich sein müssten. Es dürften also auch in Singapur jedes Jahr ein paar
Grippe-Patienten umkommen. Nüchtern betrachtet sind aus dieser Optik die paar SARS-Toten keine statistisch relevante Grösse.
Was SARS aber „speziell“ – und damit medienwirksam! – macht, ist die Tatsache, dass es sich um eine unbekannte Erkrankung handelt, und dass 
sie wirtschaftlichen Schaden in bisher unbekannten Grössenordnungen anrichtet. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen stehen momentan in
keinem Verhältnis zum direkten Schaden am Humankapital, den SARS durch die Todesfälle anrichtet.
Warum kommen praktisch keine Touristen mehr nach Singapur? Die „Panikmacher“ bleiben – einigermassen unbegründet – weg, weil sie Angst 
vor SARS haben. Aber auch besser informierte Reisende überlegen zweimal, bevor sie in den Flieger steigen. Immerhin könnte es passieren, dass sie
hier eine Erkältung bekommen; schwül-warmes Wetter und zahlreiche Klimaanlagen machen“s möglich. Und plötzlich findet der Tourist sich in
Quarantäne wieder und verbringt 10-14 Tage auf eine Art und Weise, die in der Urlaubsplanung nicht eingerechnet war. Da geht man lieber nach
Griechenland oder reist via Los Angeles statt via Singapur nach Australien.
Eine Rückkehr zur „Tagesordnung“ ist also mehr als angebracht. Je schneller wir lernen, mit SARS zu leben, desto besser für alle. Das soll 
nicht heissen, dass SARS eine Bagatelle wäre. Im Gegenteil. Wir sollten keine Kosten und Mühen scheuen, um so rasch als möglich eine
verlässliche Früherkennung und wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Die Kosten dafür betragen einen Bruchteil des Schadens, den die Unsicherheit
und das damit einhergehende irrationale Verhalten anrichtet.
Als Standortvorteil hat Singapur nicht viel mehr anzubieten als gut ausgebildete Einwohner, politische Stabilität, eine zentrale Lage in 
Südostasien, gute internationale Beziehungen und ein unternehmerfreundliches Umfeld. Abgesehen von der geographischen Lage
könnte SARS alle anderen Faktoren (negativ) beeinflussen! Falls die Regierung im Kampf gegen SARS versagt, könnten Firmen sich aus Singapur
zurückziehen, der Steuerhaushalt käme durcheinander, die politische Stabilität wäre gefährdet. Kein Wunder also, dass die Regierung SARS als
„grösste Bedrohung in der Geschichte des Landes“ ansieht. Singapur feiert am 9. August dieses Jahres seinen 38. Geburtstag.
Das Verhalten der Einwohner wird wahrscheinlich mehr durch den Erhalt des individuellen Wohlstands gesteuert als durch den Erhalt des 
Volkswohles als Ganzes. Wenn man vom Gesundheitspersonal mal absieht: auch jemand, der sich davor fürchtet, zufällig SARS zu bekommen, geht
hier ins Büro, in die Fabrik oder an seinen Arbeitsplatz, weil die Folgen des Fernbleibens multipliziert mit dem Erwartungswert der
Sanktionen wesentlich höher sind als die Folgen einer SARS-Erkrankung unter dem Blickwinkel ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit. Was hier jeder
einzelne merkt, wird in den internationalen Medien grosszügig übersehen.
Das momentane „business-as-usual“-Verhalten ist wahrscheinlich das beste, was der Bürger für seinem Staat jetzt tun kann. Speziell in 
Ländern wie diesem, wo die Massnahmen der Regierung zu greifen scheinen, gibt es kein besseres Rezept für den Erfolg. Das gilt für die Industrie
allgemein und für den Tourismus insbesondere. Die Erfahrung zeigt, dass ein Reiseziel sehr rasch wieder angesteuert wird, sobald es aus den
negativen Schlagzeilen verschwindet. Ägypten und Bali sind gute Beispiele dafür.
Die Medien müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Genauso wenig, wie AIDS uns zu einem Volk von Sexualabstinenzlern gemacht hat, 
wird SARS das Ende der Menschheit bedeuten. Die gegenwärtige Normalität steht hoffentlich am Beginn einer raschen selbsterfüllenden
Prophezeiung.
Christoph Moellers