9. Oktober 2020

Covid-19: Alle wollen testen und getestet werden. Wozu?

Den folgenden Beitrag habe ich für Infosperber verfasst, möchte ihn aber unseren Lesern nicht vorenthalten link auf infosperber

Heroisches Ziel: Containment
Kürzlich bestätigten mir zwei offizielle Vertreter des BAG und der Task-Force, dass die Schweiz bei der Covid-19-Bekämpfung weiterhin auf das strategische Ziel des Containments setzt. Mit dieser Strategie des «Einschliessens» will man die weitere Ausbreitung des Virus stoppen. Möglichst jede Infektion soll entdeckt und die Weitergabe unterbunden werden.

Dieses Ziel ist verknüpft mit der Hoffnung auf eine Impfung: Jetzt die Virusausbreitung so gut wie möglich begrenzen, um irgendwann in der Zukunft durch eine Impfung der Mehrheit der Bevölkerung die weitere Ausbreitung auf besonders gefährdete Personen zu verhindern.

Das Ziel ist heroisch, aber nicht grundsätzlich unrealistisch. Doch es lohnt sich vielleicht, den damit verbundenen Aufwand und die Erfolgschancen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Testen, testen, testen und Quarantäne
Die beiden wichtigsten Massnahmen, um ein Containment sicherzustellen: Testen und die Quarantäne von Kontaktpersonen.

Mit der frühzeitigen Diagnosestellung durch den Erregernachweis wollen wir infizierte Personen früh im Krankheitsverlauf entdecken, um durch Isolation die weitere Übertragung zu verhindern. Das heisst, möglichst jede Person mit milden Symptomen muss sich testen lassen und bis zum Erhalt des Testresultates zu Hause bleiben, bei positivem Resultat mindestens 10 Tage. Personen mit Zeichen einer milden Infektion der Atemwege wird es im Winter viele geben. Das kennen wir alle. Im Durchschnitt haben wir ein- bis dreimal pro Winter eine Erkältung, Kinder vielleicht häufiger. Das macht eine grosse Zahl von Tests nötig. Epidemiologen der Task-Force, mit denen ich gesprochen habe, sind sich der Schwierigkeit der Aufgabe durchaus bewusst, möchten aber ein entschlossenes Handeln im Sinne des Containments nichts unversucht lassen.

Die Crux mit den Quarantänen
Eine zentrale Schwierigkeit des Containments bei Covid-19 – da sind sich die Experten einig – ist der grosse Anteil der Personen, die ansteckend sind, ohne oder bevor sie Symptome zeigen. Da dies rund die Hälfte der Ansteckungen betrifft, genügt es keineswegs, nur kranke Personen zu isolieren. Für ein erfolgreiches Containment wäre es ideal, wir könnten bereits infizierte Personen isolieren, noch bevor sie überhaupt ansteckend sind. Dazu wird die Quarantäne eingesetzt: Personen, die wahrscheinlich mit einer infizierten Person Kontakt hatten, sollen möglichst früh, lange bevor sie Symptome aufweisen, isoliert werden. Wenn diese Kontaktpersonen innerhalb von zehn Tagen keine Symptome entwickeln, gehen wir davon aus, dass keine Ansteckung stattgefunden hat. Die richtigen Personen für eine Quarantäne zu identifizieren, ist eine Crux. Je höher der Anteil an Personen, die während der Quarantäne erkranken, desto besser ist die Effizienz der Massnahme.

Um die Effizienz der Quarantäne sicherzustellen, beschränkt man sich auf Kontaktpersonen, welche in den letzten zwei Tagen vor Erkrankungsbeginn ausreichend engen Kontakt mit der infizierten Person hatten. Die Kantone beschäftigen grössere Teams, welche für das sogenannte „Contact Tracing“ (CT), die Identifikation von Kontaktpersonen, zuständig sind. Die Arbeit der CT-Teams soll auch durch die Covid-App unterstützt werden. Für diese Personen verordnen nun Kantone, entsprechend den Empfehlungen des Bundes, eine Quarantäne. Bei Covid-19 empfiehlt das BAG eine zusätzliche Testung am 5. Tag der Quarantäne. Allerdings kann diese Testung eine Quarantäne nicht verkürzen, da die Virusvermehrung auch erst später nachweisbar werden kann.

Sind die Massnahmen effizient?
Bei jeder Massnahme im Gesundheitssystem stellt sich die Frage der Effizienz und der Wirksamkeit einer Massnahme, also inwieweit die für medizinische Massnahmen geforderten WZW-Kriterien erfüllt sind (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit). Wir brauchen Informationen zu den Kosten und Wirkungen der Teststrategie.

Konzentrieren wir uns mal zunächst auf die Effizienz der breit angelegten Sars-Cov-2-Testung. Das BAG will zur konsequenten Durchführung der Teststrategie die Kapazität von gegenwärtig etwa 12’000 auf durchschnittlich 40’000 Tests pro Tag erhöhen.

Kriterium Wirksamkeit
Die Wirksamkeit ist schwierig zu beurteilen. Ich habe zwei Epidemiologen der Task-Force gefragt, ob die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Teststrategie wissenschaftlich abgesichert sei. Doch beide sagten, dass es theoretische Überlegungen sind, welche als Grundlage dienen. Die Teststrategie müsse in einem Paket mit Contact Tracing und Quarantäne betrachtet werden. Wenn es gelingt, mit dem Testen einen grossen Teil der infizierten Personen zu identifizieren und durch Isolation der Infizierten und Quarantäne der Kontaktpersonen weitere Infektionen zu verhindern, dann müsste – so die Theorie – die Strategie doch wirksam sein.

Wenn…
Eine Suche nach Argumenten zur Wirksamkeit der Teststrategie in der Fachliteratur verläuft erfolglos. Die Europäische Gesundheitsbehörde (ECDC) empfiehlt zwar eine aktive Teststrategie, doch es finden sich auch in diesen Unterlagen keine Dokumente, welche die Wirksamkeit der aktiven Testung, sei es aus historischer Sicht oder aufgrund von Modellen, bestätigen würden.

Erfolgloser praktischer Test in Luxemburg
Luxemburg, ein Land mit 626’000 Einwohnern, etwas grösser als der Kanton St. Gallen, hat eine besonders aktive Teststrategie versucht. Das Land schlug im Sommer eine Covid-19-Testung der ganzen Bevölkerung vor, begleitet von einer Strategie des Contact Tracing und der Quarantäne. Pro Woche wurden etwa 9 Prozent der Bevölkerung getestet. Kein anderes Land in Europa war so aktiv.

Die Folge war, nicht überraschend, ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen: In den letzten drei Monaten 5360 neue Fälle oder 50 Prozent mehr als in den 5 Monaten zuvor. Dies hievte Luxemburg im Sommer zwar in die Schweizer Liste der Quarantäneländer. Doch die Sterblichkeit betrug kaum drei Promille (16 Todesfälle) im letzten Quartal. Bemerkenswert jedoch, dass der Anstieg der Fallzahlen ungebremst linear weiter nach oben verläuft (Abbildung Worldometer).


Trotz maximalem Testen stiegen die Fallzahlen weiter. Quelle: Worldometer.org

Mit anderen Worten, auch die aggressive Testaktivität in Luxemburg konnte die Ausbreitung der Erkrankung nicht stoppen. Kürzlich ist die Regierung zurückgekrebst und auf eine Testung von Stichproben zur epidemiologischen Überwachung umgestiegen.

Todesfälle korrelieren nicht mit der Testintensität
Gibt es Argumente, welche gegen die Wirksamkeit einer Teststrategie sprechen? Auch dazu müssten wir vielleicht noch mehr Daten erheben. Ein erster Vergleich der Testintensität (Anzahl Tests pro positiv getestete Personen) mit der Anzahl der Todesfälle pro Million Einwohner in einer grossen Anzahl von Ländern zeigt jedenfalls keine Korrelation der beiden Grössen (s. Abbildung 2).


Todesfallrate pro Million Einwohner im Vergleich zur Testaktivität (Anzahl durchgeführter Tests pro positives Testresultat). Quelle: OurWorldInData.org/Coronavirus (1.10.20). Leicht grössere Auflösung hier.

Nun, eine fehlende Korrelation zwischen Todesfällen und Testintensität beweist noch nichts. Auch nicht die Erfahrung aus Luxemburg. Aber die beiden Beobachtungen und das Fehlen eines anderen Wirkungsnachweises lassen doch Zweifel aufkommen, dass die theoretisch begründete Testaktivität in der praktischen Umsetzung funktioniert.

Kriterium Wirtschaftlichkeit
Wie verhält es sich mit der Wirtschaftlichkeit der Massnahme? In einem Vortrag hat ein Mitglied der Task-Force die Wirtschaftlichkeit der Massnahmen sehr einfach begründet: Jede Massnahme, die jetzt ergriffen werde, sei billiger als die Kosten eines erneuten Lockdowns, daher sei die Überprüfung der Kosten ein «no-brainer». Auch das entsprechende Policy Brief der Task-Force vom 25. August 2020 bestätigt diese Haltung. Eine konkrete Kostenberechnung wurde nicht präsentiert.

Ich fühle mich nicht kompetent, die Folgen unserer Massnahmen auf unsere Wirtschaft zu beurteilen. Doch ich denke, es ist mindestens angebracht, dass wir die Kosten der vorgeschlagenen Massnahmen grob abschätzen.

Lassen Sie mich eine Kostenschätzung nur für den Nachweis des Erregers vornehmen (Sars-Cov-2-Testung mittels PCR im Rachen-Abstrich). Folgendes sind die Rahmenbedingungen:

  • Ein Abstrich (Laborkosten und Abstrich) kostet den Bund heute insgesamt 160 CHF;
  • Das BAG fordert die Erhöhung der Testkapazität auf 40’000 Tests pro Tag;
  • Der Winter (die Zeit mit den gehäuften respiratorischen Infekten) dauert 6 Monate.

Zur Kontrolle der Anzahl durchzuführender Tests wählen wir einen zweiten Ansatz:

  • Pro Winter haben Erwachsene 2 Episoden mit respiratorischen Infektionen;
  • In der Schweiz wohnen 8 Millionen Einwohner; wir nehmen an, nur die Hälfte lässt sich bei einem Schnupfen trotz «Gratisangebot» testen.

Die Teststrategie wird teuer
Gehen wir zunächst davon aus, die vom BAG berechnete Testkapazität werde erreicht: Das würde heissen, dass wir jeden Monat 1,2 Millionen Tests durchführen, die uns monatlich 190 Millionen Franken kosten oder mehr als einer Milliarde CHF für den Winter 2020/21. Nur Testkosten!

Nun, wir können die Anzahl der durchzuführenden Tests in Frage stellen. Doch wenn wir davon ausgehen, dass nur die Hälfte der Bevölkerung der Testempfehlung nachkommt und wir nur zweimal im Jahr einen Schnupfen erleiden, dann sind es doch auch 8 Millionen Tests pro Winter, was die oben genannte Schätzung (1,2 Mio Tests /Monat) noch übertrifft. Und all die Testungen der asymptomatischen Personen sind dann noch nicht eingerechnet. Diese Kontrolle plausibilisiert die vom BAG berechnete Testkapazität.

Auch wenn wir in Zukunft noch billigere Schnelltests bekommen: Im Moment müssen wir mit den heutigen Kosten rechnen und die Kosteneinsparung könnte durch intensivierte, weil einfachere Anwendung reduziert werden. Die Berechnung der Testkosten im ersten Winter muss uns aber stutzig machen. Es geht um ein Äquivalent von sechs Kampfflugzeugen. Mit diesem Betrag könnte man 12’000 Patienten während drei Wochen auf einer Intensivstation behandeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die weiteren Kosten der gewählten Strategie, die Arbeitsausfälle durch Isolation aller mild oder asymptomatisch Erkrankten oder falsch-positiv getesteten Personen sowie aller Kontaktpersonen in Quarantäne, die Testkosten bei weitem übertreffen werden.

Sind die Kosten verhältnismässig?
Gut möglich, dass ich als Mediziner wichtige Überlegungen der Ökonomen übersehe. Ein Verzicht auf diese Testungen könnte ebenfalls Kosten zur Folge haben. Die Schätzung der Testkosten sollte uns aber mindestens dazu veranlassen, eine seriöse Kosten-Nutzen-Rechnung anzustellen und Alternativen zu prüfen. Von meinen Kollegen beim BAG habe ich über die Jahre einige Aspekte der öffentlichen Gesundheit gelernt. Insbesondere auch, dass man die Allokation von Ressourcen einer Kosten-Nutzen-Überlegung unterziehen soll.

Gerne mache ich dazu ein Beispiel: Jedes Jahr sterben rund 1800 Menschen an Darmkrebs. Meine Kollegen der Gastroenterologie bestätigen mir, dass wir mit einem einfachen Darmkrebsscreening, das jährlich rund 100’000 Darmspiegelungen zur Folge hätte und weniger als 100 Millionen Franken kosten würde, rund drei Viertel dieser Krebs-Todesfälle verhindern könnten. Jedes Jahr über 1000 Todesfälle! Wie können wir nun rechtfertigen, für die Covid-19-Prävention mehrere Milliarden auszugeben, wenn vergleichsweise billige, ja spottbillige Massnahmen nicht eingeführt sind und bezahlt werden.

Es ist Zeit, unser Covid-Präventionskonzept auf den Prüfstand zu setzen. Wir leben in einem reichen Land. Dennoch sollten wir uns bemühen, das zur Verfügung stehende Geld möglichst sinnvoll einzusetzen. Insbesondere, da es möglich ist, dass die ganze Strategie Schiffbruch erleidet.

Allenfalls wäre ein noch intensiverer Schutz von Risikopersonen die bessere Investition.