1. Mai 2020

Kinder und Corona: Verwirrung pur!

Eigentlich wollte ich mich etwas mässigen und meine Blog-Beiträge reduzieren. Aber an diesem Punkt muss ich intervenieren. Nun kommt ein wissenschaftlicher Artikel von der Gruppe Drosten aus Berlin (Jones et al, 2020), der unmittelbar nach dem Entscheid die Schulen wieder zu öffnen, von den Medien zur grossen Verunsicherung aufgemacht wird. War alles falsch?

Tempo gefährdet Seriosität der Wissenschaft
Wir leben wissenschaftlich in einer schwierigen Zeit. Der Artikel hat – wie alle anderen auch die jetzt breit zu Corona publiziert werden – noch keinen peer-review durchgemacht. Das heisst, er wurde noch nicht von Peers, Fachkollegen des Gebietes, gegengelesen und kritisiert. Aber die Schlussfolgerungen sind publiziert. Und „10 vor 10“ hat sie aufgenommen.  Wir alle, die selbst publizieren, werden immer wieder als peers angefragt. Eine zeitaufwändige Aufgabe, die wir aber gerne machen. Sie bringt die Wissenschaft weiter. Die eigenen Arbeiten kritisch durch andere begutachten zu lassen, bringt uns weiter.

Einfache Beobachtung – fragwürdige Schlussfolgerung
Die Gruppe Drosten hat eine einfache Beobachtung gemacht und publiziert. Sie haben von Covid-19 infizierten Personen aller Altersklassen die Viruskonzentration (mit einer nicht validierten Methode) quantifiziert. Viruslast.  Nun haben sie gefragt, ob die Viruslast bei unterschiedlichen Alterstgruppen unterschiedlich ausfällt. Das Resultat: Nein,  die gemessene Viruskonzentration ist in allen Altersgruppe etwa gleich verteilt. Doch nun kommt der wichtige Punkt: Die Autoren extrapolieren von diesen Viruslast-Daten auf die Infektiosität, also das Risiko, dass eine infizierte Person eine Dritte ansteckt. Und suggerieren, ihre Messungen würden den Entscheid, die Schulen wieder zu öffnen, in Frage stellen.

Virus und Infektiosität – Kein neues Thema
Nun an diesem Punkt musste ich aufhorchen: Die Infektiosität eines Virus, nämlich HIV, ist mein zentrales Forschungsthema seit den frühen 90-er Jahren. Ende der 90-er Jahre hatten wir unsere «magic formula» aufgestellt: Wir haben den Zusammenhang zwischen Viruslast und Infektiosität beschrieben. Wir konnten sogar in einem mathematischen Modell das Übertragungsrisiko beim Sex in Abhängigkeit der Viruskonzentration im Sperma voraussagen. Nun, es vergingen dann noch gut 10 bis 15 Jahre, bis wir erkannt haben, dass das mit der Viruslast nicht so einfach war. Dass das nur ein Teil des Bildes war. Es zeigte sich, dass die Infektiosität viel mehr von anderen Fakten abhing. Wäre ich nun peer reviewer dieser neuesten Arbeit aus dem Labor Drosten, ich würde bei der Diskussion auf diese offenen Punkte hinweisen und die Schlussfolgerungen so nicht akzeptieren. 

Autoren unterschlagen einige Argumente
Die Autoren haben in ihrer Diskussion auch einige Argument unterschlagen, welche gegen ihre Schlussfolgerungen sprechen. Auch das würde ein Reviewer noch bemängeln. So haben sie wichtige epidemiologische Beobachtungen unterschlagen. Sie haben auch eine Arbeit nicht erwähnt, welche zeigt, dass die Virusrezeptoren bei jungen Menschen in geringeren Konzentrationen auf der Zelloberfläche vorliegen. Möglich, dass auch das ein wichtiges Argument ist.

Wissenschaftliche Diskussion praktisch nicht mehr möglich
Bei diesem raschen Austausch von Informationen sind Diskussionen – wie man sieht – fast nicht mehr möglich. Diese hektische Auseinandersetzung mit diesen wichtigen Themen macht es nicht einfach, die eigentlichen Fragen fundiert zu diskutieren. Unserem Motto  „follow the science“ treu zu bleiben, wird immer schwieriger.

Foto von Luis Anzo