Faktencheck: Auch eine Infektion kann Long-COVID auslösen
Ein aufmerksamer Leser hat mir kürzlich einen Newsletter weitergeleitet. Die Botschaft darin: Long-COVID sei gar kein echtes Krankheitsbild nach Infektion – sondern schlicht ein Impfschaden. Eine ziemlich steile These, gestützt auf eine neue Studie aus Taiwan. Die Argumentation klingt schlüssig – wenn man die Überschrift liest. Weniger, wenn man die Studie tatsächlich liest.
Und das habe ich getan. Nicht nur das: Ich habe mir auch die Studie angeschaut, auf der die zitierten Daten überhaupt beruhen. Und siehe da: Der vermeintliche Beweis gegen Long-COVID nach Infektion entpuppt sich als faszinierender Beleg für etwas ganz anderes – und potenziell Unbequemes: Es gibt Long-COVID nach Infektion, und es gibt Long-COVID nach Impfung. Das verbindende Element scheint das Spike-Protein zu sein. Doch eins nach dem anderen.
Was wurde untersucht?
Die Studie von Chen et al. aus Taiwan basiert auf einer Impfstudie mit über 700 Gesundheitsfachpersonen, die ab 2022 im Rahmen einer Immunstudie (Lin et al.) begleitet wurden. Alle Teilnehmenden waren zu Beginn seronegativ und hatten mindestens drei COVID-19-Impfungen erhalten – meist mit mRNA-Vakzinen, teils ergänzt durch einen vierten Booster.
Im Verlauf der Omikron-Welle infizierten sich viele der Teilnehmenden, bei den meisten verlief die Infektion mild. Sechs Monate nach dem Höhepunkt der Welle wurden 467 Personen gebeten, einen standardisierten Fragebogen auszufüllen – darunter validierte Instrumente wie GAD-7 (Angst), PHQ-9 (Depression) und Fragen zu Gedächtnisproblemen, Konzentrationsstörungen, Fatigue und anderen typischen Long-COVID-Symptomen.
Drei Gruppen, gleicher Befund
Die Autoren bestimmten am Ende der Impfaktion im Blut Antikörper, die durch die Impfung hervorgerufen wurden, aber auch sogenannte Nukleokapsid-Antikörper. Das Nukleokapsid ist ein Eiweiss im Innern des Sars-CoV-2 Virus, welches im Impfstoff nicht vorhanden ist. Wenn dieser Antikörper gefunden wurde, gingen die Autoren davon aus, dass die Person eine Infektion hinter sich hatte. Einige der N-Antikörper positiven Personen hatten aber angegeben, dass sie nie Symptome einer Covid-Infektion hatten. Hier gingen die Autoren davon aus, dass diese eine „symptomlose“ Krankheit (asymptomatisch) durchgemacht hatten. Basierend auf diesen Informationen haben die Autoren die Kohorte in drei Gruppen eingeteilt:
- Keine Infektion – (Anti-N-Antikörper negativ, keine Symptome)
- Symptomatische Infektion – (Anti-N-positiv und klinisch dokumentiert)
- Asymptomatische Infektion – (Anti-N-positiv, aber ohne Krankheitsgefühl)
Das Ergebnis: Die Häufigkeit neuropsychiatrischer Symptome („long-Covid“) war in allen drei Gruppen ähnlich.
Ob jemand eine Infektion hatte oder nicht, spielte für die Entwicklung von Gedächtnisproblemen, Fatigue oder Angststörungen keine signifikante Rolle. Also die geimpften Gesundheitsfachpersonen, welche keine Covid-Infektion durchgemacht hatten, wiesen am Ende etwa gleich häufig Long-Covid-Symptome auf, wie ihre Kollegen, die nachgewiesenermassen (N-Antikörper) an Sars-CoV-2 erkrankten. Da muss man sich fragen, ob sie vielleicht nicht besser auf die Impfung verzichtet hätten, falls sie – wie die meisten Gesundheitsfachpersonen – kein erhöhtes Covid-Erkrankungsrisiko hatten.
Spike im Kopf
Diese Beobachtung hat den Newsletter-Autor zu einem provokativen Schluss geführt: Wenn Long-COVID-Beschwerden auch ohne Infektion auftreten, müsse es sich um Impfschäden handeln. Doch das greift zu kurz.
Denn sowohl Infektion als auch Impfung haben eines gemeinsam: das Spike-Protein. Es ist das zentrale Antigen, auf das das Immunsystem reagieren soll – und es steht zunehmend im Verdacht, selbst pathogen zu wirken.
Bereits 2024 zeigte eine Autopsiestudie von Rong et al., dass Spike-Protein bei verstorbenen Patient:innen unterhalb der Schädeldecke nachweisbar war – eingebettet in Immunzellen, die vermutlich aus der Peripherie ins Gehirn migriert waren. Auch eine neue Studie von Manganotti et al. liefert Hinweise: Patient:innen mit subjektivem kognitivem Abbau nach milder COVID-Infektion zeigten eine Hypometabolie in frontalen Hirnregionen (FDG-PET) und eine Verlangsamung der Hirnströme (EEG) – beides Muster, die auf eine Entzündung oder Funktionsstörung des Nervensystems hindeuten.
Auch die klinische Beobachtung passt: In einer aktuellen Übersichtsarbeit in den Medical Research Archives wird zusammengefasst, dass sowohl Infektion als auch Impfung mit neuropsychiatrischen Symptomen einhergehen können – und dass das Spike-Protein als gemeinsamer pathogener Faktor eine plausible Erklärung bietet.
Für unsere medizinisch besonders interessierten Leser: weiter unten gibt es eine Auswahl neuer Studien, die sich ausführlich mit der Pathogenese des Spike-Proteins beschäftigen.
Ein unterschätzter Befund
Ein interessanter Nebenaspekt der Chen-Studie: Die Gruppe mit asymptomatischer Infektion wies eine etwas geringere Rate an Long-COVID-Symptomen auf. Zwar war dieser Unterschied nicht signifikant – die Gruppe war mit 21 Personen schlicht zu klein –, doch der Trend wirft eine wichtige Frage auf:
Könnte es sein, dass wir die Inzidenz von Long-COVID überschätzen, wenn wir nur symptomatische Infektionen berücksichtigen? Die Autoren jedenfalls stellen diese Hypothese zur Diskussion.
Fazit
Ich danke dem Leser, der mir den Newsletter geschickt hat – und damit diesen Artikel inspiriert hat. Aber: Ein „Faktencheck“ zeigt eben nicht nur, dass die Impfung Long-COVID auslösen kann. Das stimmt – leider. Sondern auch: Die Infektion kann das genauso.
Und am Ende läuft es auf dasselbe Molekül hinaus – das Spike-Protein. Es scheint bei einem Teil der Menschen eine Entzündung, Fehlregulation oder Störung des zentralen Nervensystems auszulösen – unabhängig davon, wie es in den Körper gelangt.
Vielleicht wäre es an der Zeit, bei all den öffentlichen Debatten über Impfpflichten, Impfschäden und Virusvarianten eines nicht zu vergessen: Der Mensch ist keine Labormaus. Und die Wahrheit selten binär.
Für Spezialisten: Mehr zur Rolle von Spike
Zahlreiche Studien legen nahe, dass das SARS-CoV-2-Spike-Protein – unabhängig davon, ob es durch Infektion oder Impfung in den Körper gelangt – selbst pathogen wirken kann. Die folgenden Arbeiten beleuchten verschiedene Mechanismen, über die Spike das zentrale Nervensystem beeinflussen, Entzündungen auslösen oder langfristige Symptome verursachen kann. Hier eine bescheidene Auswahl:
Spike im Tiermodell macht direkten Schaden
Frank et al, 2023: Die Studie zeigt, dass bereits das isolierte Spike-S1-Protein (ohne das restliche Virus) bei Mäusen eine ausgeprägte neuroinflammatorische Reaktion im Gehirn auslöst – inklusive Aktivierung von Mikroglia und erhöhter Ausschüttung von IL-1β, IL-6 und TNF-α. Dabei erfolgten diese entzündungsfördernden Prozesse durch einen direkte durch Spike vermittelte Stimulation von TLR-4, einen Rezeptor der angeborenen Immunabwehr. Das Spike Protein wirkte dabei wie ein Pathogen, durch den sogenannten PAMP (pathogen-associated molecular pattern) Vorgang. In Verhaltensversuchen führte die Injektion von Spike Protein ins Gehirn von Laborratten zur lethargischem Verhalten (Fatigue), Apathie, verminderte Selbstpflege und Aufmerksamkeitsdefiziten, nicht aber zur Veränderung des Essverhaltens, wie dies bei anderen Krankheitsprozessen der bekannt ist.
Fontes-Dantas, 2023 Diese Autoren verabreichten Spike-Protein direkt ins Gehirn von Mäusen. Ergebnis: eine signifikante und langanhaltende Gedächtnisstörung, Mikroglia-Aktivierung und Verlust synaptischer Dichte. Dabei war entscheidend: Eine Blockade des TLR4-Rezeptors verhinderte diese Schäden, was zur Erkenntnis von Frank et al. passt. Die Autoren fanden auch bei 86 Personen mit milder COVID-Erkrankung einen Zusammenhang zwischen einem genetischen Polymorphismus im Gen, welches den TLR-4-Rezeptor kodiert: Individuen mit dem homozygoten GG auf Position 2604 hatten ein signifikant höheres (1.9x) und solche mit G/A-Genotyp ein reduziertes (0.5x) Risiko für schlechtere kognitive Leistungen Monate nach der Covid-Infektion. Dies legt nahe, dass dies ein relevanter genetischer Faktor sein könnte, der hier den schlechten Verlauf bei Long-covid mitbestimmen könnte. Auch interessant ist die Beobachtung, dass die direkte Injektion von Spike ins zentrale Nervensystem zu einer Erhöhung des NFL im Plasma führt. NFL (neurofilament light chain) ist ein Marker für einen Verlust an Synapsen und erhöht bei neurodegenerativen Prozessen, wie Alzheimer. Ein erhöhter NFL-Wert im Blut wurde bereits früh bei Patienten mit schwerem Covid-Verlauf gezeigt (Kanberg, 2020) als Dokumentation einer organische Schädigung von Nervenstrukturen.
Spike Protein löst inflammatorische Prozesse über TLR-2 aus
Khan 2021: Die Autoren konnten zusätzlich zum bereits erwähnten TLR4 mit TLR-2 einen weiteren Rezeptor im angeborenen Immunsystem identifizieren, welcher durch das Spike Protein aber nicht durch andere Virusbestandteile stimuliert werden kann. Der Mechanismus dürfte für den manchmal beobachteten Zytokine-Sturm verantwortlich sein.
Mikroglia – die Immunzellen des Gehirns werden durch Spike aktiviert
Alves, 2023: In dieser Arbeit wird ein weiterer Mechanismus untersucht: Das Spike-Protein verändert direkt die purinerge Signalgebung in Mikrogliazellen – insbesondere die Reaktion auf extrazelluläres ATP. Insbesondere P2X7 Rezeptoren auf Mikroglia-Zellen (Immunzellen im zentralen Nervensystem) werden aktiviert. Eine solche Aktivierung findet sich z.B. auch bei Alzheimer. Dies könnte erklären, warum manche Patient:innen noch lange nach der Infektion unter neurologischen Symptomen leiden.
Spike-Protein persistiert über lange Zeit im Körper
Stein et al, 2022: Diese im Nature publizierte Autopsiestudie untersuchte 44 Verstorbene nach COVID-19. In über 80 % der Fälle fanden sich Virus-RNA und Spike-Protein in verschiedenen Organen – darunter in Hirnstamm, Basalganglien und Kleinhirn. Besonders bemerkenswert: Diese viralen Spuren waren bei einigen Patient:innen noch über 200 Tage nach Infektion nachweisbar. Dies liefert einen direkten morphologischen Beleg für die anhaltende Präsenz von Spike im ZNS.
Review-Arbeiten zu Hypothesen der Long-Covid-Entstehung
Theoharides, 2022: Eine frühe, aber vielzitierte Hypothese zur Rolle des Spike-Proteins. Die Autoren fassen zusammen, wie Spike verschiedene zelluläre Prozesse beeinflussen kann: von der Mitochondrienfunktion bis zur Blut-Hirn-Schranken-Permeabilität. Auch direkte neurotoxische Effekte werden beschrieben – mit Blick auf Symptome wie Fatigue, Brain Fog und autonome Dysfunktion.
De Melo, 2025: Diese umfangreiche Übersichtsarbeit beleuchtet, wie Spike-Protein in mononukleäre Zellen aufgenommen, dort persistiert und in extrazellulären Vesikeln zirkulieren kann – auch Monate nach der akuten Infektion. Es wird diskutiert, wie diese persistenten Spike-Fragmente zu chronischen Entzündungen und Autoimmunprozessen beitragen könnten – ein zentraler Mechanismus bei Long-COVID.