Also doch: Lockdowns verändern das angeborene Immunsystem
Die niederländische Forschungsgruppe um Professor Mihai Netea hat eine neue Studie vorgelegt, die untersucht, wie die COVID-19-Pandemie und ihre Maßnahmen – insbesondere Lockdowns und Impfungen – das angeborene Immunsystem beeinflusst haben. Die Studie, veröffentlicht in Frontiers in Immunology, liefert wichtige neue Daten, welche lang gehegte Hypothesen über die Rolle von Lockdowns und Impfungen auf das Immunsystem stützen.
Die Forscher:innen analysierten die Immunreaktionen in einer Kohorte von gut behandelten HIV-Patienten, weil sie auf eine grosse Zahl tiefgefrorener Zellen von dieser Kohorte zurückgreifen konnten. Die wichtigsten Erkenntnisse haben sie dann noch einer kleinen Gruppe von HIV-negativen gesunden Personen bestätigen können. Vermutlich lassen sich die folgenden zentralen Erkenntnisse aber auch auf die Gesamtbevölkerung übertragen:
Lockdowns und die Reaktionsbereitschaft des Immunsystems
Lockdowns reduzierten den Kontakt der Bevölkerung mit alltäglichen Krankheitserregern, was zu einer signifikanten Steigerung der Reaktionsbereitschaft des angeborenen Immunsystems führte. Das angeborene Immunsystem ist der erste Schutzwall des Körpers, der unspezifisch auf Infektionen reagiert. Eine Überaktivierung dieses Systems äußerte sich laut der Studie durch eine erhöhte Produktion von sogenannten Zytokinen. Zytokine sind Signalstoffe, die von Immunzellen freigesetzt werden, um eine Entzündungsreaktion auszulösen – eine wichtige Abwehrfunktion, die aber bei Überreaktion auch schädlich sein kann.
Ein ähnlicher Mechanismus wurde bereits 2022 in einem Artikel auf infekt.ch diskutiert, der darauf hinwies, dass nach den Lockdowns ungewöhnlich hohe Infektionsraten von RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus) in mehreren Ländern beobachtet wurden. Diese Welle wurde auf ein „verlerntes“ Training des Immunsystems zurückgeführt – ein Phänomen, das nun durch die Studie von Netea et al. weiter gestützt wird.
Wirkung der COVID-19-Impfung auf angeborenes Immunsystem
Während die Impfstoffe spezifische Immunantworten gegen SARS-CoV-2 erzeugten, beobachtete die Studie eine gedämpfte Reaktionsbereitschaft des angeborenen Immunsystems auf unspezifische Reize. Dies könnte bedeuten, dass das Immunsystem nach der Impfung weniger stark auf Infektionen reagiert, die nicht durch SARS-CoV-2 verursacht werden. Solche Effekte wurden 2023 auf infekt.ch diskutiert. Dort wurde die Möglichkeit formuliert, dass mRNA-Impfstoffe langfristige Auswirkungen auf die Funktion des angeborenen Immunsystems haben könnten. Die neuen Daten von Netea et al. liefern konkrete Hinweise darauf, dass diese Effekte tatsächlich auftreten können, und unterstreichen die Notwendigkeit, die unspezifischen Wirkungen von Impfstoffen genauer zu untersuchen.
Epigenetische Veränderungen durch Lockdowns und Impfungen
Eine besonders spannende Erkenntnis der Studie betrifft die epigenetischen Veränderungen des Immunsystems. Epigenetik beschreibt Mechanismen, durch die Umwelteinflüsse – wie Lockdowns oder Impfungen – die Aktivität von Genen dauerhaft verändern können, ohne die DNA selbst zu verändern. Konkret konnten die Forscher:innen zeigen, dass sowohl die Lockdowns als auch die Impfungen zu Modifikationen in der Aktivität bestimmter Gene führten, die für die Immunantwort verantwortlich sind. Diese Veränderungen könnten erklären, warum das Immunsystem der Teilnehmer:innen langfristig anders reagiert.
Diese Erkenntnis stützt das Konzept der „trained immunity“, das beschreibt, wie frühere Kontakte mit Erregern das angeborene Immunsystem nachhaltig beeinflussen können. Das bedeutet, dass das Immunsystem nicht nur für kurze Zeit „trainiert“ wird, sondern über epigenetische Mechanismen auch langfristig umprogrammiert werden kann.
Einordnung der Ergebnisse in den aktuellen Diskurs
Die Ergebnisse von Netea et al. sind von erheblicher Bedeutung, da sie zeigen, dass sowohl Lockdowns als auch Impfungen tiefgreifende Auswirkungen auf das Immunsystem haben können. Diese Erkenntnisse werfen Fragen zu möglichen langfristigen Konsequenzen auf, die bisher noch nicht ausreichend erforscht sind. Gleichzeitig bestätigen sie viele der Vermutungen, die bereits in früheren Diskussionen über die Pandemie geäußert wurden.
In meinem Buchkapitel „Kann Physical Distancing auch Schaden anrichten?“ (im Band Der Corona-Elefant, S. 170f.) habe ich auf die potenziellen negativen Auswirkungen von sozialen Distanzierungsmaßnahmen hingewiesen. Dort wurde argumentiert, dass ein reduzierter Kontakt mit alltäglichen Mikroorganismen das Gleichgewicht des Immunsystems stören könnte. Die Studie von Netea et al. liefert nun empirische Beweise für diese Hypothese, indem sie zeigt, wie sich Lockdowns direkt auf die Zytokinproduktion und epigenetische Signaturen des angeborenen Immunsystems auswirken.
Ähnlich argumentierte Andreas Radbruch in seinem Beitrag (Der Corona-Elefant, S. 148 ff.), dass Impfungen sowohl spezifische als auch unspezifische Effekte auf das Immunsystem haben könnten. Radbruchs Überlegungen zur Balance zwischen Schutzwirkung und möglichen immunologischen Nebenwirkungen werden durch die aktuellen Daten weiter untermauert.
Neue Erkenntnisse zur Infektionskontrolle
Die neue Studie liefert nicht nur wertvolle Einblicke in die Immunologie, sondern lenkt auch den Blick auf die Effektivität der Infektionskontrolle durch Lockdowns. Neuere Antikörperstudien zeigen, dass nahezu jeder früher oder später mit SARS-CoV-2 in Kontakt gekommen ist. Dies deutet darauf hin, dass Maßnahmen wie Lockdowns zwar die Dynamik der Pandemie verzögerten, aber letztlich nicht verhindern konnten, dass sich das Virus weitgehend in der Bevölkerung verbreitete.
In diesem Licht stellt sich die Frage, wie zukünftige Maßnahmen nicht nur die Verbreitung eines Virus eindämmen, sondern auch das natürliche „Training“ des Immunsystems bewahren können. Das Konzept der „Hygienehypothese“, das bereits in der Literatur über andere Infektionskrankheiten gut dokumentiert ist, könnte hier als Grundlage dienen: Ein gewisser Kontakt mit Mikroorganismen ist essenziell, um das Immunsystem in Balance zu halten.
Fazit
Die neue Studie leistet einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Pandemie-Maßnahmen und dem Immunsystem. Ihre Ergebnisse bestätigen nicht nur lang gehegte Hypothesen, sondern eröffnen auch neue Forschungsfelder. Sie zeigen, dass es dringend notwendig ist, die langfristigen Konsequenzen von Maßnahmen wie Lockdowns und Impfungen genauer zu untersuchen, um die gleichen Fehler nicht bereits bei der nächsten Pandemie zu machen. Gleichzeitig sollten zukünftige Strategien die begrenzte Effektivität der Infektionskontrolle anerkennen und einen Ansatz verfolgen, der Infektionsschutz und die natürlichen Trainingsprozesse des Immunsystems in Balance bringt. Und dann mein ceterum censeo: Für eine gute Funktion braucht unser angeborenes Immunsystem viel Vitamin D. Deutlich mehr als wir meinen (infekt.ch).
Beim erneuten Lesen des Buches „Der Corona-Elefant“ fällt mir auf, dass in dem Werk auch heute noch wertvoller Inhalt zu lesen ist. Ich habe noch ein gutes Dutzend Exemplare, die ich Ihnen (nach meinen Ferien) zustellen kann. Preis: 20.- Plus VK (10.-), Bestellungen auf Covid@vernazza.ch