20. Dezember 2021

Legen wir oder Omicron die Wirtschaft lahm?

Omicron, der neue SARS-CoV-2 Virusstamm, erhitzt die Gemüter und verunsichert die Menschen. Einige Fragen zu Omicron sind sicher noch offen, bei vielen zeichnet sich eine Antwort ab. Hier eine kleine Übersicht der relevanten Themen aber zum Abschluss dann eine Prognose zu einem Problem, das mir am meisten Sorgen bereitet.

Zunächst etwas Biologie
Wenn sich ein Virus neu in einer Spezies (hier beim Menschen) etablieren soll, so muss es so ausgestaltet sein, dass es gut von Mensch zu Mensch übertragen wird. Um gut übertragbar zu sein, muss es von einer erkrankten Person in ausreichender Konzentration ausgeschieden werden und es muss sich gut an die Zelloberfläche der zu infizierenden Person anheften können. Coronaviren können ihre Eigenschaften, wie andere RNA Viren auch, durch Mutation verändern. Dies erfolgt nicht gezielt, sondern das Virus macht beim Vermehrungsvorgang immer wieder Fehler. Selten einmal kann ein solcher „Fehler“ einem neu entstandenen Virus einen Vorteil bringen, dank dem es besser übertragen werden kann. Dieser „Fehler“ wird dann zum Vorteil für das Virus, wenn es dadurch besser als andere Viren übertragen werden kann.

Selektionsvorteil
Wenn ein neues Virus auf die Menschheit trifft, ist die Mensch-zu-Mensch Übertragung noch nicht optimiert. Wenn nun durch den Zufall der Mutation Viren entstehen, die besser übertragen werden, dann werden diese ihren Vorteil ausspielen. Wir sprechen dann von Selektionsvorteil. Diese neuen Mutanten erreichen vielleicht höhere Viruskonzentrationen oder binden besser an die Zielzelle. Genau das ist im Verlaufe der Evolution von Sars-CoV-2 geschehen. Die Beta- und Delta Varianten zeichnen sich dadurch aus, dass sie besser an der Zielzelle binden (ACE-2-Rezeptor) und dass sie bei der infizierten Person zu höheren Viruskonzentrationen in den Atemwegssekreten führen. Immer wieder hört man, dass man nicht wisse, ob die neuen Viren auch aggressiver verlaufen würden. Das ist natürlich richtig. Aber man könnte die Aussage auch noch ergänzen: Ein Virus, welches die infizierte Person im Nu ins Bett wirft, hat dadurch noch keinen Selektionsvorteil. Und ohne Selektionsvorteil müssen wir eigentlich auch nicht eine Mutation befürchten, welche den Menschen kränker macht. Im Gegenteil: Es gibt viele Arbeiten zur Influenza die zeigen, dass sich ein neues Virus eher in Richtung „milder“ verändert, als umgekehrt. Dies ist durchaus plausibel, denn am meisten wird das Virus an andere weiter gegeben, wenn der Träger fit ist. Denn krank im Bett bleibt man meist isoliert und kontaktarm.

Virus wird immer ansteckender
Somit ist nun erklärt, weshalb sich über die Monate neue Virusstämme (alpha, beta, gamma, delta…) entwickelt haben. Diese haben immer bessere Übertragungseigenschaften entwickelt, ohne schwerere Krankheitsbilder auszulösen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Fallzahlen sind in jeder Virus-„Welle“ (Alpha, Beta, Delta) immer höher, doch die Sterberate (Case fatality rate) aber immer geringer ausgefallen. Auch dieses Phänomen ist gut bekannt in der Evolution von Viren, die einen Speziessprung schaffen. Ein Virus wird somit immer ansteckender über die Zeit. Man könnte sogar vermuten, dass „social distancing“ Massnahmen letztendlich auch eine Selektion von Viren fördern, welche besser übertragbar sind. Doch dies bleibt eine Vermutung, eine noch zu prüfende Hypothese.

Omicron: Immune-Escape
Doch wenn sich ein Virus mal in einer Bevölkerung ausbreitet, dann wird es immer mehr Personen geben, die eine Immunantwort gegen das Virus aufbauen. Nun hat das Virus ein anderes Problem: Viele Personen werden beim Kontakt mit dem Virus gar nicht angesteckt, sie erkranken nicht und geben das Virus auch nicht weiter. Um aus Sicht des Virus erfolgreich zu bleiben, muss es dieser Immunantwort einen Riegel schieben. Dies geschieht dadurch, dass es seine Oberfläche ändert, und zwar genau dort an der Andockstelle des Virus zur Zielzelle. Das Immunsystem hat nach einem Kontakt mit dem Virus (oder nach einer Impfung) gegen genau diese Andockstelle Antikörper gebildet. Wir sprechen von neutralisierenden Antikörpern, weil sie die Bindung zur Zielzelle blockieren. Gelingt es dem Virus nun, seine Oberfläche so zu verändern, dass es weiterhin an die Zielzelle binden kann, ohne dass die neutralisierenden Antikörper dazwischen funken, dann sprechen wir von „Escape-Varianten“. Ein Virus, welches die „neutralisierenden Antikörper“ umgeht, wird somit nicht mehr daran gehindert, eine Zelle anzustecken. Doch unser Immunsystem hat eine zweite Abwehr aufgebaut: Beim ersten Kontakt mit dem Virus, bauen wir Abwehrzellen auf, welche eine infizierte Zelle bei der nächsten Infektion sehr rasch erkennen und gleich zerstören. Harakiri, werden Sie denken. Aber es ist die einzige Art, wie der Körper eine infizierte Zelle los wird um die Ausbreitung der Infektion zu verhindern.

Immunantwort der natürlichen Infektion überlegen
Um es gleich vorwegzunehmen: Die Impfung ist bei erwachsenen Personen sicher die beste Art um dafür zu sorgen, dass man bei einer Infektion weniger schwer erkrankt. Und dennoch ist heute zweifelsfrei gezeigt, dass die Schutzwirkung der Immunantwort nach einer Infektion diejenige der Impfung übertrifft (s. Beitrag 4.11.21). Die Kombination Impfung und anschliessende Infektion dürfte die Schutzwirkung noch toppen. Weshalb ist dies so?
Nun, bei einer Covid-Impfung verwenden wir ein relativ kleines Eiweiss-Stück aus dem „Spike“-Protein, gegen welches der Körper eine Immunantwort aufbaut. Dieses Impf-Eiweiss ist so gewählt, dass Antikörper entstehen, welche die Bindung zur Zelle verhindern, neutralisierende Antikörper. Doch bei einer natürlichen Erkrankung werden Dutzende von  Virusbestandteilen als fremd erkannt und eine zelluläre Immunantwort aufgebaut. Wenn nun eine der oben genannten „Escape-Varianten“ übertragen werden, so könen die Abwehrzellen gegen diese anderen Virusbestandteile weiterhin die infizierten Zellen frühzeitig entdecken und rasch eliminieren.

Booster-Impfung: Mehr vom Gleichen
So raffiniert die gezielte mRNA Impfung auch ist, weil sie nur sehr wenige, gezielte Antikörper provoziert, so limitierter ist deren Wirkung bei einer „Escape-Variante“. Da ausser der Immunantwort gegen das Spike Eiweiss keine anderen Abwehrzellen gebildet wurden, hat das Immunsystem keine „Fallback-Option“, um die neue Variante mit einer breiten zellulären Immunantwort zu bekämpfen. Nun ist genau das das Problem mit der Omicron-Variante: Es handelt sich um ein Virus, dem die neutralisierenden Antikörper einer Impfung oder einer durchgemachten Infektion kaum etwas anhaben können. Und genau dies beobachten wir in Südafrika und unterdessen auch in vielen anderen Ländern: Menschen, welche geimpft sind, werden dennoch angesteckt.

Nun rennen alle Menschen in die Impfzentren und möchten einen Booster. Der Bundesrat hat diesen empfohlen, damit wir besser gewappnet sind gegen Omicron. Sind wir das? Ich weiss es nicht, aber Zweifel sind erlaubt. Sicher können ältere Personen (z.B. ab 50 J.), deren Immunsystem nicht mehr so aktiv arbeitet, mit einem Booster noch eine zusätzliche Wirkung erwarten. Ihr Immunsystem wir einmal mehr an die fremden Eiweisse erinnert und stimuliert. Wir können davon ausgehen, dass diese „Erinnerung“ die Immunabwehr verbessert. Hätten wir kein Omicron, würde ich davon ausgehen, dass dies tatsächlich etwas nützt. Aber wenn wir es heute mit einer „Escape-Variante“ zu tun haben, so ist das Problem nicht die Intensität der Immunantwort (welche durch den Booster verstärkt werden soll), sondern die Veränderung der Virusoberfläche. Und wenn ich das Immunsystem immer mit dem gleichen Eiweiss stimuliere, so verstehe ich nicht, wie dieser „Booster“ nun plötzlich besser gegen ein solches verändertes Eiweis („Immun-Escape“) aktiv werden kann. Aber vermutlich ist mein Verständnis der Impfantwort unvollständig. Heute habe ich im Tagblatt einen „Faktencheck“ gelesen, der festhält: „Deutlich besser ist die Schutzwirkung bei Menschen, die eine dritte Dosis erhalten haben, der Booster wirkt also durchaus. Daher gehe ich davon aus, dass ich mich diesbezüglich irre. Ich habe mich beim Journalisten nach Quellenangaben erkundigt. Sobald ich mehr darüber in Erfahrung bringe, werde ich dies hier in einem Nachtrag noch einfügen.

Wird uns Omikron überrennen?
Im zitierten Tagblatt-Artikel können wir auch lesen: „Mit der Omikron-Variante, die schon in wenigen Wochen dominieren könnte, verschärft sich die Situation nochmals: Die Genesung bietet offenbar nur einen schwachen Schutz vor einer Infektion, in Kombination mit zwei Impfdosen wird er deutlich besser.“
Mit der ersten Aussage bin ich absolut einverstanden. In den nächsten 4 Wochen werden wir überflutet mit Infektionen durch Omicron. Sowohl Geimpfte wie Genesene wird es treffen. Gemäss meinem Verständnis der Immunantwort und auch den Daten, die ich aus Südafrika und England gelesen habe, wäre ich davon ausgegangen, dass die Genesung auch bei Omicron einen besseren Schutz bietet. Aber wie gesagt, auch ich bin nur ein einfacher Infektiologe der sich irren kann. Ich werde meine Vermutungen korrigieren, sobald ich die entsprechenden Quellen des Journalisten erhalten habe. Diejenigen Leser, die bereits eine Covid-19 Erkrankung durchgemacht haben, möchte ich eher beruhigen: Kein Grund zu Panik!

Die grosse offene Frage
Soviel zu meinem lückenhaften Verständnis zu Omikron. Hinweise nehme ich gerne über Covid(at)Vernazza.ch entgegen. Doch im Moment beschäftigt mich ein anderes Thema, das niemand thematisiert: Wir müssen aufgrund der genannten Argumente und der hohen Infektiosität von Omicron damit rechnen, dass in den nächsten 2 Monaten ein grosser Teil der Bevölkerung eine Infektion durchmachen wird. Sorge machen uns die Personen, die keine Krankheit durchgemacht hatten und nicht geimpft sind. Sie könnten unsere Spitäler überlasten. Das ist bekannt. Glücklicherweise sind vielleicht vier Fünftel der Bevölkerung geimpft oder genesen. Das heisst, die meisten werden (wenn ich mich nicht ganz täusche) eine mildere Verlaufsform der Erkrankung haben. Das haben wir auch im persönlichen Umfeld in den letzten Wochen immer und immer wieder erlebt. Die vielen Infizierten – es könnte ein Drittel der Bevölkerung treffen – werden meist mild erkranken. Dennoch werden auch die mild Erkrankten – so wurden wir konditioniert – einen PCR-Test machen lassen. Sie werden somit das Contact tracing kontaktieren. Und jetzt werden sie eine Verfügung erhalten, wonach sie sich während 10 Tagen in Isolation begeben müssen und von der Arbeit fernbleiben.

Weshalb machen wir 10 Tage Isolation?
Seit Beginn der Pandemie verschreiben wir allen infizierten Personen mit Covid-Diagnose eine mindestens 10-tägige Isolation, länger wenn die Symptome länger dauern. Die Idee dahinter war zu Beginn der Versuch, durch ein sogenanntes Containment die Ausbreitung der Infektion im Lande zu verhindern. Die wissenschaftliche Grundlage für diese 10-tägige Isolationsdauer ist dünn. Sehr dünn. Wir hatten deshalb im Mai 2020 dem Bundesamt für Gesundheit ein Argumentarium mit wissenschaftlichen Daten vorgelegt. Unsere Schlussfolgerung aus den vorliegenden Daten war, dass man eigentlich nach Abklingen der Symptome die Isolation aufheben könnte. Denn die Symptome einer Infektion sind eigentlich Folgen der Immunabwehr. Mit dem Auftreten derselben, sinkt die Viruskonzentration. Wer keine Symptome mehr hat, ist in der Regel auch nicht mehr relevant ansteckend. Basierend auf den zitierten Daten hatten wir – um etwas vorsichtig zu sein – eine Isolation von zwei Tagen nach Abklingen der Symtome vorgeschlagen. Das BAG hat damals unserer Argumentation grundsätzlich zugestimmt. Doch der wichtigste Grund, den die Fachpersonen vom BAG als Einwand brachten war, dass man im angrenzenden Ausland auch eine 10-tägige Isolation mache.

Und wie machen wir das, wenn Omicron kommt?
Gut, wir haben es versucht, aber offenbar erfolglos. Die Isolationsdauer blieb unverändert. Tausende von Menschen blieben 10 Tage zu Hause, auch wenn sie sich am dritten Tag wieder wohl fühlten. Heute erhält das Problem eine neue Dimension: Nach allem was wir von Südafrika und England hören, müssen wir mit sehr hohen Omikron Erkrankungszahlen innert weniger Wochen rechnen. Da die meisten hier geimpft oder genesen sind, werden diese Personen mit grösster Wahrscheinlichkeit eine sehr kurze und milde Erkrankung haben (Aussage noch nicht im Faktencheck geprüft). Aber meine grösste Sorge gilt nun der Arbeitswelt: Wenn nun das BAG an der 10-tägigen Isolationspflicht für Geimpfte und Genesene festhält, selbst dann, wenn die Symptome nach einem Tag abklingen, was nicht ungewöhnlich ist, dann könnte unsere Wirtschaft mehr unter der Omicron Welle leiden als unsere Spitäler. Wenn innert kurzer Zeit ganze Belegschaften für 10 Tage ausfallen, dann haben wir ein echtes Problem. Ein Problem, das wir selbst verursacht haben, nicht das Virus.

In Eile verfasst
Ich möchte mich entschuldigen. Der vorliegende Text ist in Eile verfasst. Es ist gut möglich, dass einige Korrekturen notwendig sind. Auch werde ich zu einem späteren Zeitpunkt die Referenzen zu meinen Aussagen ergänzen. Doch die Sorge, das Thema der unnötig langen Isolation während den bevorstehenden Festtagen unbearbeitet bleiben könnte, motiviert mich, die Diskussion jetzt schon anzustossen.

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