20. März 2020

Vielleicht 90% von Coronainfektionen unbemerkt!

Zurzeit sind wir maximal beschäftigt mit der Bewältigung unserer Aktivitäten zur Vorbereitung der noch kommenden Ausbreitung von COVID in der Schweiz. Die politischen Entscheidungen der letzten Wochen waren teilweise überstürzt. Das war auch notwendig, denn in solchen Situationen dürfen wir keine Zeit verpassen. Doch es lohnt sich auch, von Zeit zu Zeit das, was wir gerade tun – und oft tun wir es alleine deshalb, weil es die anderen vorgemacht haben – zu reflektieren.

Follow the Science!
Mit diesem Zitat hat Barack Obama in seiner Präsidialzeit ein klares Zeichen gesetzt: Er hat klar gemacht, dass politische Entscheide letztendlich immer auf Evidenz abgestützt sein müssen. Und er hat seine besten Wissenschafter immer wieder zu Beratungen zugezogen. Eine Haltung, welche im Moment in den USA sträflich vernachlässigt wird. Aber nicht nur in den USA. Auch wir sind in einem Zustand, in dem der Einbezug von Fachkompetenz in den politischen Entscheidungen rund um Corona kaum noch Platz hat. Das Tagesgeschäft lässt Reflexion fast nicht mehr zu.

Bahnbrechende Arbeit von den Medien kaum beachtet
So wundert es nicht, dass die Publikation von Li et al. fast unbemerkt an uns vorbei ging. Doch die im hoch dotierten „Science“ publizierte Arbeit hat es in sich. Die Epidemiologen haben die Ausbreitung von  COVID-19 in China untersucht und sind der Frage nachgegangen, wie oft denn die neuen Infektionen überhaupt entdeckt wurden. Die Methodik ist ausgeklügelt, sie basiert auf Berechnungen von Kontaktwahrscheinlichkeiten und bezieht auch die Mobilitätsdaten und weitere komplexe Informationen ein.

Das Resultat ist jedoch recht einfach erzählt:

  • Rund 85% (82-90%) aller Infektionen sind erfolgt, ohne dass jemand die Infektion *bemerkt hat
  • Etwa 55% der unbemerkt Infizierten haben weitere Personen angesteckt

Eigentlich vermuten wir dies schon lange. Anders wäre es gar nicht erklärbar gewesen, dass die Infektionszahlen in China nach einigen Wochen gegen Null gesunken sind. Denn mit einer Immunitätsrate von weniger als 1% der Bevölkerung kann man das nicht erklären (weniger als 100’000 Personen in Wuhan von rund 10 Mio. Menschen erkrankt). Es würde nicht mal verwundern, wenn weitere Untersuchungen die Rate von stummen Infektionen noch höher beziffern werden.

Konsequenzen für Epidemiologie, Fallmanagement und Politik
Diese neue und nicht überraschende Erkenntnis muss rasch zu einer evidenzbasierten Korrektur unserer Massnahmen führen.

  1. Stoppt wilde Testaktivität. Subito!
    Zunächst einmal ist klar, dass wir aufhören müssen, COVID-19 Tests zu machen. Diese Tests nützen niemandem etwas, weil sie nur den kleinsten Teil der Ansteckenden entdecken. Dazu sind die Kosten sind mit 200.- Fr. pro Test prohibitiv hoch. Das ist ineffizient. Tests helfen uns im Spital Patienten mit schweren Infektionen zu behandeln. Dort wollen wir wissen, wer infiziert wird. Doch um die Ausbreitung zu stoppen, das hat die Arbeit von Li et al. gezeigt, bringt es nichts.
    Lobend möchte ich hier das BAG hervorheben, das schon lange gesagt hat, dass man nicht mehr alle Verdachtspersonen testen soll. Doch die Botschaft ist noch nicht angekommen**.
  2. Informiert endlich die Bevölkerung und redet Klartext!
    Diese Infektion ist für junge Menschen mild. Angst ist kein guter Ratgeber. Die Meisten Menschen sehen eine schreckliche gefährliche Krankheit  vor sich. Ja, es ist wahr. In Italien stirbt etwa eine von zehn diagnostizierten Personen. Doch wie wir jetzt nach dieser Science Arbeit wissen, dürfte das eher eine von 1000 angesteckten Personen sein. Und was wir auch aus Italien und China wissen: Rund 50% der Verstorbenen Patienten sind über 80 Jahre alt, fast 90% sind über 70-Jahre. Das heisst nicht, dass hinter diesen Zahlen nicht auch tragische Einzelschicksale stecken. Doch oft trifft es – ähnlich wie wir das von der Grippesaison kennen – Personen, die am Ende ihres Lebens stehen. An einem Punkt, an dem sie sich vielleicht selbst sogar auf den Tod vorbereiten oder aufgrund ihres Zustands immer damit rechnen, dass es passieren könnte. Das Leben ist endlich. Auch das müssen wir den Menschen wieder in Erinnerung rufen.
  3. Überlegt die nächsten Schritte!
    Ich habe schon erwähnt: Sofortmassnahmen müssen sofort sein. Das liegt in derer Natur. Doch dann braucht es wieder Phasen der Besonnenheit und des Nachdenkens. Wir müssen die nächsten Schritte vertieft überlegen. Aber wir müssen aufgrund der neuen Erkenntnis auch einsehen, dass viele der Massnahmen, die wir heute so massiv umgesetzt haben, vielleicht sogar kontraproduktiv sind. Nicht dass ich jetzt schon behaupte, ich wüsste die Lösung. Aber mindestens müssen wir die Frage stellen, ob unser Vorgehen korrekt ist.
    Ein Beispiel: Wir sind überzeugt, dass das Schliessen der Schulen, ein wichtiger Schritt war. Korrekt, wir wissen das aus der Erfahrungen von der Spanischen Grippe. Doch ich habe beim Bund nachgefragt: Niemand hatte für diese Entscheidung eine wissenschaftliche Basis. Man hat es eingeführt, weil die anderen Länder es auch eingeführt hatten. Aber wenn wir jetzt davon ausgehen, dass vielleicht ein grosser Teil der Kinder rasch angesteckt wird (und das lassen uns die epidemiologischen Zahlen) so könnte es mindestens theoretisch sein, dass es am besten wäre, wenn unsere Kinder möglichst rasch immun werden***. Denn zwei Dinge wissen wir bestimmt: Wenn viele Kinder immun werden, wird sich die Krankheit viel langsamer ausbreiten. Genau das, was wir wollen. Und was wir auch wissen: Kinder werden nicht schwer krank und sterben nie an der Krankheit.
    Aber auch alle anderen Maßnahmen zur Einschränkung der Ausbreitung müssen wir überlegen. Vielleicht wäre es mindestens zu überlegen, ob man Isolationsmassnahmen vor allem auf gefährdeten Personen beschränkt und den, jungen, nicht gefährdeten Menschen wieder einen Zugang Erholung der Wirtschaft ermöglicht.
    Nicht dass ich jetzt das Ende der Massnahmen gefordert habe. Aber lasst uns darüber nachdenken. Jetzt.

 

Kommentar 23. März:
Ich bedanke mich bei den über 100 begeisterten Zuschriften (die ich nicht alle beantworten konnte) wie auch bei den bisher 4 kritischen Voten, die ich alle ernst nehme.
Darunter waren Hinweise, die ich gerne präzisierend aufnehme:
*unbemerkt infiziert ist unpräzis und nicht als „symptomlos“ zu interpretieren. Es sind Infektionen, die nicht erkannt wurden. Vorwiegend mit sehr milden Symptomen, ist anzunehmen. Es kann auch symptomlose Fälle darunter haben.

**zwei Kritiker haben geschrieben, ich würde mich gegen die Haltung des BAG wenden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin voll auf der BAG-Linie und betone das auch: Das BAG hat eine sehr klare, eingeschränkte Teststrategie. Ich habe mich gegen die massiven Forderungen von anderen Gruppen gewehrt, welche (gut gemeint) ein viel breiteres Testen fordern, in der Vorstellung, damit die Ausbreitung zu hemmen. Zur Zeit haben keine Tests mehr. Wir brauchen diese für die Patienten, die hospitalisiert werden müssen. Ohne Diagnose sind wir im Blindflug.

***Ich habe nie gesagt, der Entscheid war falsch. Im Gegenteil. Ich habe nur gesagt, wir müssen kritisch prüfen, ob er allenfalls auch die falsche Wirkung haben könnte.

 

Referenz: Der Artikel wurde in Science am 16.3.2020 online und am 1. Mai 2020 in der Zeitschrift publiziert. Li et al, Science, 268 289-93 (2020)