28. Januar 2020

2019-Coronavirus: Unser Wissensstand

Bei jedem Ausbruch einer neuen Infektionskrankheit versucht man zunächst, den Krankheitserreger und seine Übertragungswege zu erfassen, und wo dies möglich und sinnvoll erscheint, die weitere Ausbreitung des Erregers einzudämmen. So auch beim neuen 2019-Coronavirus (2019-nCoV).

Wenn wir heute die Flut von  Informationen aus Asien zum neuen 2019-nCoV –Ausbruch analysieren, müssen wir versuchen, Informationen zu filtern, zu bewerten und daraus die wichtigsten Konsequenzen für die Schweiz abzuleiten. Diese Analyse des Wissensstands aktualisieren wir täglich.

Im Folgenden fassen wir den aktuellen Stand unseres Wissens zusammen.

  1. Coronaviren beim Menschen
    Beim 2019 nCoV handelt es sich um ein Coronavirus, welches aus dem Tierreich stammt und bisher noch nie bei Menschen gefunden wurde.
    Coronaviren gibt es Zahlreiche. Sie finden sich im Tierreich wie auch beim Menschen. Einige davon sind auch als Krankheitserreger beim Menschen bekannt. Sie verursachen (meist milde) Infektionen der Atemwege («Common cold»).
  2. Schweregrad der Erkrankung
    Beim SARS-Coronavirus (2003) handelte es sich um den Ausbruch eines Virus, das mit den von bereits bekannten Coronaviren nicht zu vergleichen war. Zu Beginn der Epidemie war etwa die Hälfte der betroffenen Personen an der Krankheit (Pneumonie) gestorben. In einer abschliessenden Analyse von über 8000 Krankheitsfällen lag die Mortalität immer noch bei 10%. Auffallend war hier, dass es meist junge, bisher gesunde Menschen traf.
  3. Mortalität und Fallzahlen
    Beim Ausbruch der ersten nCoV-Fälle fiel schon mal auf, dass über 50 gemeldete Fälle beobachtet wurden, bevor erstmals ein Mensch an der Infektion starb. Im Gegensatz zu den Todesfällen bei SARS betrifft es eher ältere Menschen oder Personen mit Begleiterkrankungen. Die exakte Mortalität von 2019-nCoV muss noch beziffert werden. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sie – sobald die ganze Ausbreitung auch der milderen Fälle bekannt wird – deutlich unter 1% abfallen wird. Damit verhält sich das Virus bezüglich tödlichem Verlauf ähnlich wie die saisonale Grippe.
    Zu Beginn eines Ausbruchs werden Mortalitätsraten immer überschätzt. Dies hängt damit zusammen, dass bei einer neuen Erkrankung nur die schwere Fälle auffallen und abgeklärt werden. Auch bei m 2019-nCoV gehen wir davon aus, dass Todesfälle recht zuverlässig erkannt und gemeldet werden, doch unter den Erkrankungsfällen nur  die „Spitze des Eisbergs“ erkannt wird.
    Die Universität Hongkong zeigte in Modellrechnungen, dass bereits am 25.1.20 alleine in der Stadt Wuhan über 44’000 Menschen erkrankt sind (1.20). Die Epidemiologien gehen auch davon aus, dass heute bereits in allen chinesischen Städten die Infektion von Mensch zu Mensch übertragen wird. Diese Schätzung deckt sich auch mit den Schätzungen des englischen Epidemiologen Neil Fergusson; er geht davon aus, dass schon 100’000 Menschen in Wuhan erkrankt sind (The Guardian 26.1.20).
    Eine akutalisierte Grafik von Jan M Macjkay findet sich hier.
  4. Übertragung
    Die Übertragung der meisten Coronaviren erfolgt durch direkten Kontakt von Mensch zu Mensch. Beim Niessen und Husten werden auch Tröpfchen übertragen. Die Rolle von Aerosolen (Erreger in Lufttröpfchen, die auch über Distanzen von >1m übertragen werden) ist ungewiss. Sie wird eher überschätzt. Um Infektionen (wie bei der saisonalen Grippe) wirksam zu vermeiden, kann man Kontakte reduzieren, Hände regelmässig waschen und offenes Husten vermeiden (Husten-etikett, Niessen in Ellbogen).
    Ohne spezielle Schutzmassnahmen überträgt jede infizierte Person die Infektion auf zwei weitere Personen (Schätzung 1.4-2.3, Ferguson, 22.1.20). Eine Reduktion dieser Zahl (basale Reproduktionsrate) unter 1 bringt die Krankheit zum Verschwinden.
    Eine gute Analyse zur Übertragungskinetik findet sich hier (25.1.20, Tao Liu et al.).
  5. Ansteckung vor Symtombeginn
    Bei SARS konnte man zeigen, dass die Phase der höchsten Ansteckungsrate erst etwa eine Woche nach Symptombeginn war. Inwieweit eine Infektion beim 2019-nCoV wie bei einer Grippe schon vor Symptombeginn übertragbar sein könnte, ist noch unsicher. Es ist durchaus möglich, dass auch Personen mit weniger ausgeprägten Symptomen oder sogar symptomlose Personen vor Erkrankungsbeginn ansteckend sein könnten (27.1.20, Diskussion auf SMC)
    Der Coronavirus-Experte Prof. Volker Thiel will nicht ausschliessen, dass das neue CoV bereits vor Symptombeginn ansteckend sei (Interview 28.1.20). Doch die Evidenz ist mager.
  6. Virusreservoir
    Die Rolle der Fledermäuse in der Uebertragungskette ist derzeit nicht geklärt. In Analogie zum SARS und MERS (auch eine Coronavirus) geht man derzeit davon aus dass die Fledermaus das Hauptreservoir darstellt. Ein Zwischenwirt, bevor der Sprung auf den Menschen erfolgt ist, hat man derzeit noch nicht identifiziert. Zu Beginn des Ausbruches wurde festgestellt, dass über 60% der Patienten kontakt mit dem Wildtier und Fischmarkt in Wuhan hatten. In laufenden Untersuchungen konnte aber noch keine Tierart als möglicher Zwischenwirt ausfindig gemacht werden. Schlangen, wie anfänglich vermutet worden ist, konnte man in der Zwischenzeit wieder ausschliessen.
  7. Ausbreitung stoppen?
    Aufgrund der  hier geschilderten Beobachtungen (hohe Dunkelziffer der bereits infizierten Personen, hohe basale Reproduktionsrate, Infektiosität von asymptomatischen Personen) sind wir spätestens seit dem 26.1. der Ansicht, dass ein sogenanntes „Containment“ dieser Epidemie global nicht möglich sei. Diese Aussage steht im Widerspruch zur Haltung der WHO, welche am 29.1.20 noch ihre Überzeugung vertrat, dass die Epidemie zu stoppen sei (Videoausschnitt Pressekonferenz). Wir gehen davon aus, dass wir bereits in der ersten Februarwoche Klarheit zu dieser Frage haben werden. Diese Klärung ist notwendig, um die notwendigen Abwehrmassnahmen zu planen.

zuletzt aktualisiert: 30.1.20, 8:00

Wir bedanken uns bei unserem Kollegen Christian Griot für die Durchsicht des Textes.

Foto von barockschloss

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