22. Juli 2019

Interessenskonflikte in der Medizin: Massiv unterschätzt

Wenn wir Ärztinnen und Ärzte Entscheidungen für unsere Patienten fällen, dann sind wir – mehr als es uns bewusst ist – von Pharmafirmen und anderen Anbietern im Gesundheitsbereich beeinflusst. Die Tatsache alleine, dass Pharmafirmen so viel Geld in das Marketing investieren, ist bemerkenswert. Eine bereits letztes Jahr publizierte Studie von Schweizer Kollegen soll in diesem Zusammenhang doch noch einmal besonders erwähnt werden. Hier ging es um Einflussnahme der Industrie auf Entscheidungen im Bereich Infektprävention.

Die Autoren fokussierten bei dieser Arbeit auf Fragen der Wahl von Desinfektionsmitteln im Intensivmedizin-Bereich, wobei sie zunächst auch die allgemeinen Interessensbindungen von Medizinern durchleuchteten. Es ging dabei auch um die Frage, wer weshalb welche Untersuchungen publiziert. Auch diese Entscheidungen werden durch Industriepartner beeinflusst. Die Autoren verwendeten Daten aus den USA, doch darf man getrost davon ausgehen, dass die Prinzipien dieser Zusammenhänge global gelten. Die Quintessenz ist recht beeindruckend!

Breite Finanzierung durch die Industrie
Die Analyse der publizierten Daten zur Finanzierung von Ärztinnen und Ärzten (aus: US Open Payments) ergab schon ein eindrückliches Bild. 48% aller in den USA tätigen Kolleginnen und Kollegen erhielten im Jahr 2015 eine finanzielle Entschädigung von der Industrie (insgesamt 2.4 Milliarden US$, s. Abb.). Ein ganz wichtiges Feld sind auch Fachjournals: Diese erhielten immense Summen von der Industrie für Werbezwecke oder auch für speziell verkaufte Artikel-Reprints. Die bezahlten Summen pro Editor gehen von einem Mittelwert von 28’000 US$ aus, können aber in Einzelfällen eine Million US$ übersteigen.

Weiter zeigen die Autoren, dass auch die Teilnehmer von Richtlinien-Gremien sich meistens den Interessenskonflikten nicht bewusst sind auch nur in den wenigsten Fällen Interessensbindungen offen dargelegt werden.

Auch die Forschung wird beeinflusst
Die Industrie vermag mit ihrem Einfluss nicht nur unsere Verschreibungspraxis beeinflussen. Auch unsere Forschungstätigkeit und die Wahl der Forschungsthemen kann unter Umständen durch die Industrie beeinflusst werden. Die Autoren habe dies sehr schön gezeigt anhand der Analyse von Forschungsarbeiten auf zwei verwandten Gebieten. Es wird das Beispiel einer Firma zitiert (Sage Products) welche einer Forschungsinstitution eine Million Dollar überwiesen hat. Die Firma produziert das Desinfektionsmittel Chlorhexidin. Natürlich waren die Forscher überzeugt, dass das Geld keinen Einfluss auf ihre Forschungsresultate hatte, wonach das Produkt von Sage eine bessere Desinfektion bewirkt. Später erst haben randomisierte Studie diesen Vorteil von Chlorhexidin nicht belegen können. Doch ungeachtet dessen, setzen 63% der US Spitäler Chlorhexidin ein, um ihre Patienten vor bestimmten Eingriffen zu baden, eine Massnahme, für welche gar keine Evidenz gezeigt wurde.

Quintessenz: Bleibe Kritisch und Distanziert
Die hier dargestellten Beispiele sind nur ein kleiner Einblick in die Massiven Beeinflussungsmassnahmen der Industrie. Für uns bleibt wichtig: Wir müssen gegenüber Firmenempfehlungen, ja sogar gegenüber Richtlinien kritisch bleiben. Wer steckt dahinter? Wer hat welche Interessen. Die Offenlegung von Interessenskonflikten ist eine Voraussetzung für eine gute Medizin. Aber nur der erste Schritt! Unabhängigkeit bleibt zentral.