Wenn die Hirnleistung nachlässt Alter, HIV, oder beides
Wenn wir älter werden, lassen, wie auch bei unseren Patienten, Konzentrations-, Problem-lösungs- und Merkfähigkeit ab. Doch bei einzelnen Patienten fragen wir uns, ob wir es nicht mit neurokognitiven Störungen zu tun haben, welche die „Norm“ überschreiten. Im Wissen, dass das Gehirn für HIV ein Kompartiment darstellt, fragen wir uns gelegentlich, ob wir die HIV-Therapie gut im Griff haben.
Hinweise für einen Hirnbefall bei HIV-Primoinfektion
Eine Gruppe (Spudich et al, Abstr 18) ist der Frage nachgegangen ob das im Liquor nachgewiesen Virus dieselbe Sequenz hat, wie das Virus im peripheren Blut. Oder ob eine Selektion/Weiterentwicklung schon bei Patienten mit einer akuten HIV-Infektion stattgefunden hat. Es handelt sich dabei um eine sehr kleine Studie: 10 männnliche Patienten aus Thailand mit einer sehr frühen Infektion (Fiebig Stadium II-IV) und einer sehr hohen Viruslast (>4logKop/ml Liquor).
Die Autoren kommen aufgrund von Sequenzanalysen zum Schluss, bei der Primoinfektion Viren im Blut und Gehrin identisch sind. Bei der Frühinfektion scheint es also zu einem freien Austausch zwischen Blut-Liquor ohne Selektionsdruck zu kommen.
Lassen sich neuropsychologische Störungen voraussagen?
Wenn das Gehirn also schon bei der Primoinfektion (PHI) betroffen ist so stellt sich die Frage, ob das spätere Auftreten von neurokognitiven Störungen vorausgesagt und allenfalls durch eine Therapie beeinflusst werden kann. Kore et al. (Abstr 19) haben 36 Patienten aus Bangkok mit akuter HIV-Infektion genauer untersucht. Eine neuropsychologische Testbatterie wurde bei der PHI und 3 und 6 Monate danach durchgeführt. Untersucht wurde der Einfluss der unterschiedlichen Therapien (TDF+FTC+EFV vs. zusätzlich RAL+MVC als mega HAART) auf die Entwicklung von neurokognitiven Veränderungen.
Als mögliche prognostische Marker wurden untersucht: CD4/8, Viruslast (Liquor/Blut), Liquorbefund und Symptomdauer bis Therapiebeginn.
Die Autoren fanden eine Korrelation von neurokognitiven Einschränkungen bei PHI mit der Viruslast und der Dauer bis zum Therapiebeginn. Unter Therapie kam es klar zu einer Besserung der neurokognitiven Performance. Somit kann man vermuten, dass die frühzeitige Therapie das Auftreten von neurokognitiven Einschränkungen verhindern könnte.
Und was ist die Wirkung von Medikamenten?
In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch das Poster von Scott Lettendre (Abstr 407) interessant, in dem er grosse Unterschiede bei den neuropsychologischen Funktionen zwischen Patienten unter EFV vs. LPV dargestellt hat. Interessanterweise hatten EFV-Behandelte (meist höherer CD4 Nadir, mehr Erstherapie) schlechtere neurologische Funktionalität, obwohl sie seltener (8% vs. 26%) nachweisbare Viruslast im Liquor hatten!
Führt eine Mitochondrienschädigung zur Hirnatrophie?
Eine Gruppe aus Hawai (Shikuma et al, Abstr 21) untersuchte mögliche Gründe für einen Verlust von Nervenzellen als mögliche Grundlage für HIV-assoziierte, neurokognitive Erkrankung (HAND). Wir wissen, dass mitochondriale (mt) Dysfunktion und mt-spezifischer oxidativer Stress eine Entzündungsreaktion auslösen und in der Folge Nervenzellen zerstören kann.
Die Gruppe untersuchte 52 Patienten mit chronischer Infektion – die meisten gut therapiert mit MRI, neuropsychologischen Tests – und korrelierte die Daten mit Hinweisen für mitochondriale Schädigung im Bluttest. Es zeigte sich, dass eine Erhöhung des Complex I im Blut (oxidative phosphorylation {OXPHOS}, NADH dehydrogenase) als Zeichen eines mt-Schadens mit einer Grössenabnahme des nucleus accumbens und des nucleus caudetes sowie mit einem schlechteren, neurokognitiven Score (global und psychomotorischen) einhergeht.
Als Mechanismus wird postuliert dass die HIV-Infektion zu einer Entzündungsreaktion führt (gemessen an Erhöhung des Komplex I), welche wiederum eine Dysfunktion der Mitochondrien nach sich zieht und die Entzündungskaskade unterhält. Die Folge der Entzündungskaskade ist dann das HAND.
Einschränkend ist anzumerken, dass eine Referenzgruppe fehlt und die mitochondriale Aktivität nur im peripheren Blut gemessen wurde.
Auch für Dolutegravir gute Penetration im Liquor gezeigt
In diesem Zusammenhang vielleicht auch noch interessant das Poster von Scott Lettendre (Abstr 178LB) in dem er für Dolutegravir nicht nur eine gute Penetration in das ZNS gezeigt hat sondern auch die gute Wirksamkeit (keine HIV-RNA im Liquor) nach 16 Wochen Therapie.
Neurokognitive Störungen und allgemeine Gebrechlichkeit
HIV-Patienten unter ART fallen oft auch durch einen allgemeinen, körperlichen Abbau auf: Besteht ein Zusammenhang?
Eine Studie von Bryan Smith et al. (Abstr 444) hatte im Zeitraum von 6 Jahren in der Multicenter AIDS Cohort Study 340 HIV-positive mit 353 HIV-negativen Männern im Durchschnittsalter von 50 Jahren miteinander in Bezug neurokognitive Störungen verglichen, gemessen mit Standardtests, und allgemeiner Gebrechlichkeit, gemessen an Kraft im Faustgriff, Geschwindigkeit beim Gehen, ungewollter Gewichtsverlust und selber berichteter, rascher Erschöpfbarkeit. HAND (HIV associated neurocognitive disorder) wurde definiert als ANI (neurocognitive impairment), MMD (minor neurocognitive disorder ) und Demenz.
Zu Beginn der Studie hatten 190 der HIV+ und 197 der HIV- Männer eine HAND-Störung. Im Laufe von 6 Jahren Beobachtung entwickelten beide Gruppen etwa gleich viel Gebrechlichkeit (75% resp. 5.3%), aber die Wahrscheinlichkeit eine HAND zu entwickeln war bei gebrechlichen HIV+ Männern deutlich höher (odds ratio [OR] = 1.96) gegenüber HIV- ( OR = 1.25) (p < 0.001)
Konklusion: Kognitive Störungen sind bei HIV+ Menschen signifikant assoziiert mit erhöhter allgemeiner Gebrechlichkeit.
Neurokognitive Störungen und Alter
Wir wissen noch wenig über den Zusammenhang des individuellen Verlaufs der HIV-Infektion und der Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer neurokognitiven Störung. Unsere Patienten werden älter, immer ältere Menschen werden infiziert und unsere HIV-Patienten sehen auch älter aus, als sie sind. Altert auch das Hirn rascher? Spielen die Immunaktivierung oder vaskuläre Krankheiten eine Rolle?
In einer gross angelegten Studie von Karl Goodkin et al. (Abstr 439) wurden 2‘278 HIV+ Patienten in der Multicenter AIDS Cohort Study mit 2‘808 HIV- in über je 20’000 Konsultationen miteinander bezüglich kognitiver Fähigkeiten in 5 Gebieten verglichen: Geschwindigkeit der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis und motorische Fähigkeiten. Dazu wurden dann aus der Krankengeschichte die folgenden Faktoren berücksichtigt: Ausbildung, Einkommen, ethnische Herkunft, Gewicht, BMI, Depressionen, ART, Diabetes, Hypertonie, psychotrope Medikation und subjektive Beurteilung von Schmerzen und Müdigkeit, Koinfektion HCV/HBV, Nikotin, Alkohol, andere Drogen und die Dauer der HIV-Infektion.
Weniger diese zahlreichen Kofaktoren, sondern vor allem das höhere Alter ist signifikant mit einer Verschlechterung aller Funktionen verbunden. Und ebenso ist auch das Stadium der HIV-Infektion besonders stark mit abnehmender Gedächtnisleistung verbunden, unabhängig vom Alter. Bei vergleichbarer Dauer der HIV-Infektion besteht eine signifikante Verbindung zwischen Alter, HIV-Stadium und der Abnahme der Gedächtnisleistung (p <0.03) und der motorischen Funktionen (p <0.002). Wenn man nur die Dauer der HIV-Infektion allein betrachtet, korreliert die Dauer der Infektion sogar mit einer besseren neurokognitiven Leistung in allen Funktionen.
Konklusion: Das Stadium der HIV-Infektion scheint den Zusammenhang zwischen Alter und kognitiven Störungen signifikant zu verstärken sowohl in Bezug Gedächtnis als auch Motorik. Auffallend ist die günstig erscheinende Korrelation der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Dauer der HIV-Infektion: Eine günstige Hirnleistung scheint mit einem über lange Zeit generell günstig bleibenden Verlauf der HIV-Infektion zusammen zu hängen.