HIV-PEP: Wenn schon, dann richtig!

Seit Jahren empfehlen wir für Personen nach einer Exposition mit HIV (Nadelstich oder Sexualkontakt) eine 4-wöchige Therapie mit einer HIV-Dreierkombination. Doch die Behandlungsregime sind veraltet und kaum evidenzbasiert.

Um es gleich vorweg zu nehmen: niemand wird je sagen können, dass die eine PEP-Kombination besser sei als die andere. Doch auch wenn randomisierte Studien fehlen, heisst evidenzbasiert handeln nicht: "Wir haben keine Daten". Evidenzbasiertes Handeln verlangt den Einbezug der besten, verfügbaren Information für die gestellte Aufgabe. In dieser Hinsicht haben wir für die Situation PEP eindeutig bessere Möglicheiten als das, was wir heute tun.

Am Anfang war AZT
Als Ruth Rutmann vor über 20 Jahren ihre Ergebnisse im Affen-Tiermodell vorstellte, waren wir alle begeistert. Sie konnte zeigen, dass man die Versuchstiere vor einer Infektion schützen konnte, wenn 2-4 h nach einer experimentellen Infektion der Versuchstiere eine Behandlung mit dem einzigen, damals verfügbaren Medikament AZT (Retrovir) eingeleitet wurde.

Die Resultate der Tiermodelle haben uns aufgerüttelt. Denn in jedem grösseren Zentrum gab es einzelne Mitarbeiter, die sich einmal mit einer gebrauchten Blutkanüle von einem HIV-Patient verletzt hatten. Auch der Autor hat die Erfahrung 1987 gemacht.

Basierend auf den Tierexperimente haben die Hardliner unter den Evidenzfanantikern beim CDC  nun eine randomisierte, placebokontrollierte Interventionsstudie nach Nadelstichverletzungen aufgesetzt. Doch die Studie musste bald abgebrochen werden. Oder Hand auf’s Herz: hätten Sie sich nach einer Nadelstichverletzung für eine Studie gemeldet, wenn Sie ein verfügbares Medikament, das Tiere vor einer Infektion schützt, in der Apotheke kaufen könnten?

Fall-Kontroll Studie als zweitbeste Option
Das CDC hat nun sofort reagiert und eine Fall Kontrollstudie in Angriff genommen. Verglichen wurden Personen, die nach einer Nadelstichverletzung infiziert wurden, mit solchen, welche "Glück" hatten. Tatsächlich unterschieden sich die beiden Gruppen in Bezug auf AZT-Einahme. Daraus liess sich abschätzen, dass eine HIV-PEP mit AZT, rechtzeitig eingenommen, das Risiko einer HIV-Infektion um ca. 80% senkt. Das ist schon allerhand!

Mehr Medikamente sind besser – So unsere Erfahrung
Seither hat sich vieles verändert im Lande der HIV-Therapie. Seit 15 Jahren sind Dreierkombinationen Standard. So ist auch klar, dass wir für eine PEP nicht nur ein Medikament empfehlen, sondern eine Dreierkombination. Doch es gibt überhaupt keine Untersuchungen die zeigen, dass drei Medikamente besser sind, als nur das eine ATZ. Sicher ist, dass drei Medikamente mehr Nebenwirkungen verursachen als AZT alleine.

Evidenz ist nicht zwingend gleich randomisierte, kontrollierte Studie!
Die evidenzbasierte Medizin lehrt uns, dass wir in einer klinischen Frage das zur Zeit am besten verfügbare Wissen in unser Handeln einbeziehen sollen. Empfehlungen sind ein Versuche einer Expertengruppe, eine Frage möglichst gut zu beantworten. Meist sind sie aber veraltet und können neuere Erkenntnisse gar nicht berücksichtigen. So auch bei der HIV-PEP. Wenn heute noch eine PEP mit AZT, 3TC und Lopinavir (Combivir und Kaletra) verordnet wird, so ist das ein alter Zopf, der revidiert werden muss. Denn heute gibt es biologische Evidenz, die durchaus in ein Entscheidungsmodell eingebaut werden muss. Zwei wichtige Erkenntnisse sind:

1. Tenofovir ist schon phosphoryliert und braucht im Gegensatz zu ATZ weniger Zeit, um in der Zelle zur aktiven Triphosphat-Form umgeformt zu werden. Das könnte einen entscheidenden Zeitvorteil mitbringen

2. Raltegravir, ein Integrase-Hemmer, wirkt später im Lebenszyklus der HIV-Infektion. Tierversuche konnten zeigen, dass man mit Raltegravir auch noch 4 Stunden nach einer Infektion des Tieres die Infektion der Zielzelle, respektive die Integration der Virusinformation in das Virusgenom verhindern kann. Dies ist ein entscheidender Vorteil (s. Bericht: Das Zäpfchen danach: Smart selection!).

Endlich! Jemand musste damit beginnen
Die Evidenz ist zwar offensichtlich und wir haben in unserem Ambulatorium für den Fall einer Nadelstichverletzung schon längst die Notfall-Starterpackung mit TDF+FTC und Raltegravir einsatzbereit. Doch nun hat eine Gruppe aus Boston genau diese ideale Kombination bei 100 Personen nach einer HIV-Exposition ausprobiert und im JAIDS über die guten Erfahrungen berichtet. Mehr als die Hälfte der Personen haben die Therapie während 4 Wochen eingenommen, ein Viertel hatte gelegentlich die Abenddosis Raltegravir ausgelassen. Insgesamt war die Verträglichkeit mit dieser Kombination ausgezeichnet.

Offene Fragen
Natürlich sind für HIV-PEP noch sehr viele Fragen offen:

  • Braucht es wirklich eine Dreier-Kombination. Wenn nur ein einziges Virus den Weg zur Infektion schafft, so sollte eigentlich das Resistenzproblem – der hauptsächliche Grund für die Dreierkombination – kein Thema sein.
  • Und braucht es 4 Wochen Therapie? Ältere Tierversuche waren mit 2 Wochen ausreichend. Die Infektion sollte ja nach 2 Wochen nicht neu beginnen können.
  • Genügt ein starker Start und dann eine einfachere Therapie? Man könnte auch mit einer Dreierkombination beginnen und dann nur noch mit Raltegravir oder TDF+FTC (Truvada) weiterfahren.
  • Und zu guter Letzt: bis wann hat es einen Sinn, mit der PEP anzufangen. Richtlinien nennen 72 Stunden, doch da sind sich alle einig, dass nach 3 Tagen die Infektion der Zielzelle längst stattgefunden hat. Tiermodelle zeigen uns, dass man in den ersten 2-4 h beginnen sollte. Was über 24h ist, dürfte wohl nur noch psychologische Wirkung haben. Teure Psychologie. Immerhin kostet eine solche Dreierbehandlung während 4 Wochen mehr als 2’000 CHF. Bei einem Ansteckungsrisiko von wenger ca. 0.5% bedeutet dies – bei 100% Wirksamkeit – einen Aufwand von 400’000.- CHF, um eine Infektion zu verhindern. Nicht gerade billig!

Quelle: Mayer et al, JAIDS 2012