Progress or not? Neue Medikamente sollen Nukleosid-Analoga ersetzen

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Inhaltsübersicht: Kongressbericht Wien 2010

Nukleosid Analoga waren nicht nur die ersten Therapeutika für HIV, sie haben sich auch als Standardpartner in jedem Therapieschema etabliert. Nun wollen neue Medikamente die Altbewährten von ihrer Position verdrängen. Erfolgreich?

Seit der junge Holländische HIV-Forscher Brinkmann Ende der 90-er Jahre die Mitochondrien-Hypothese zur Toxizität der Nukleosid-Analoga (NRTI) aufgestellt hat (s. Lancet 1999), beginnen wir die Nebenwirkungen dieser Substanzen zu verstehen. Da die Mitochondrien sich auch mit einer DNA-Replikation vermehren müssen, kann auch diese DNA-Polymerase durch die NRTI gehemmt werden, was die Mitochondrienreserve in den Zellen einschränken kann. Am prominentesten waren diese Nebenwirkungen sicherlich bei DDC, gefolgt von DDI und D4T aber auch AZT verursacht Schädigungen am Mitochondrion, möglicherweise auch durch einen anderen Mechanismus. Allerdings zeigen die heute eingesetzten NRTI (Tenofovir, Abacavir, Lamivudin, Emtricitabine) kaum eine messbare Wirkung auf die mitochondriale DNA-Polymerase. Allerdings scheint auch die Nierentoxizität von Tenofovir (wenigstens im Tiermodell) über eine mitochondriale Toxizität im proximalen Tubulus zu Stande zu kommen. Grund genug für die Mitbewerber, die NRTI durch neue Substanzen von deren Vorreiterrolle zu verdrängen.

Integrase-Hemmer Raltegravir drängt ins Feld
Eine solche "NRTI-sparing" Multizenterstudie wurde mit einer Kombination von LPV/r (Kaletra) mit Raltegravir (Isentress) von Abbott, der Herstellerin von Kaletra, durchgeführt und unter dem Akronym "PROGRESS" in Wien vorgestellt. Es ist somit eine Bi-Therapie welche bei zuvor unbehandelten Patienten während 48 Wochen mit einer Standardtherapie (LPV/r+Truvada) verglichen wurde. Leider ist – entsprechend dem aktuell noch gültigen Label – die Behandlung als zweimal tägliche Gabe (Ral: 2x400mg) verabreicht worden, was die Attraktivität dieser Behandlung in Zukunft kaum fördern dürfte.

Gute Wirksamkeit der neuen Kombination
Doch die Zweierkombination Lopinavir+Raltegravir hat einen sehr guten Behandlungsstart hingelegt. Eine Suppressionsrate von 84% in der ITT Analyse ist so gut wie eine Studie nur sein kann (s. Abb.). Die geprüfte Behandlung ist dem Standard sicher ebenbürtig. Die

hohe Wirksamkeit in den ersten Wochen kennen wir aus früheren Resultaten mit Integrase-Hemmern. Bis heute hat sich daraus noch kein Vorteil für die Patienten ableiten lassen. Allerdings gibt es einen kleinen Haken, denn es wurden Patienten mit relativ geringer Viruslast (Mittelwert 4.3 log) und zum Teil recht hohen CD4 Werten (Mittel: 290) eingeschlossen. Die Behandlungen waren auch in Bezug auf Therapieunterbrüche und Anstieg der CD4 Zellen (ca. +220/ 48 Wo) vergleichbar.

Verträglichkeit ernüchternd
Raltegravir hat den Ruf, gut verträglich zu sein. Doch im Vergleich zum Standard fand sich keineswegs ein Durchbruch. Beide Behandlungsarme hatten bei etwa einem Viertel der Behandelten zu mässigen oder schweren Nebenwirkungen geführt. Interessant war, dass das Auftreten von Durchfall, eine klassische Nebenwirkung von Lopinavir, unter der Truvada-Kombination deutlich häufiger war als unter der Kombination mit Isentress. Die Veränderung der Blutfette war in keiner Gruppe wesentlich anders (sicher nicht besser bei Raltegravir) hingegen war die CK-Erhöhung, mit 13% im Raltegravir-Arm relativ hoch. Die Erhöhung der Creatinkinase unter Raltegravir ist zwar schon bekannt (s. Bericht) doch deren Bedeutung noch nicht klar.

Wie wir das von ritonavir geboosteten Protease-Hemmern gewohnt sind, sind auch in dieser Studie praktisch keine Resistenzen auftegreten, in beiden Armen nicht (je eine im RAL resp. TDF-Arm). Die Studie läuft auch noch weiter (96 Wo) und wird dann noch mit Daten zu DEXA, Fettumverteilung und Adherence ergänzt.

Ist PROGRESS ein Fortschritt?
Sicher interessant, dass zwei Substanzen genüben, um ein hervorragendes Therapieresulltat zu erzielen. Doch die Behandlung hat gegenüber heutigen Standards immer noch Nachteile: Aus Sicht des Patienten bei sonst fehlenden Verträglichkeitsvorteilen sicher die zweimal tägliche Einnahme. Aus Sicht aus der Öffentlichkeit sicher der höhere Preis. In der Schweiz ist der Preisunterschied der beiden Behandlungen 3300.- CHF pro Jahr. Immer noch zuviel, um ohne klaren Nutzen die Therapie so zu beginnen. Doc für einzelnen Patienten, welche die Standard-Nukleoside nicht vertragen, ist es gut zu wissen, dass LPV+RAL eine gut wirksame Kombination darstellt. Wirkt sie auch genügend im Gehirn? Wir wissen es noch nicht. 

Links:

  • J. Reynes, et.al. – Abstract MOAB0101
  • Slides with Audio
  • Präsentation (.ppt)