Yin und Yang der Antikörpertherapie mit Natalizumab

Natalizumab (Tysabri(R)) ist ein monoklonaler Antikörper, der als Immunotherapeutikum in der Therapie der Multiplen Sklerose (seit 2004) aber auch bei Morbus Crohn (seit 2008) zugelassen ist. Neben der guten Wirksamkeit kann diese Therapie leider auch schwere unerwünschte Wirkungen zeigen.

Progressive multifokale Leukenzephalie (PML), 13 Fälle seit 2005

 

Mitte 2005 sind erste Fallbeschreibungen aufgetaucht, die das Auftreten einer progressiv multifokalen Leukenzephalopathie (PML) unter dieser Therapie beschreiben. Siehe dazu auch INFEKT.CH:„AIDS“ ohne HIV. Kurzzeitig wurde die Substanz vom Markt genommen, jedoch 2006 wieder zugelassen und wird nun seit bald 3 Jahren erfolgreich eingesetzt.

Allerdings sind inzwischen (bis Ende Juli 2009) 13 Fälle von PML unter der Therapie mit Natalizumab dokumentiert. Ein Artikel im New England Journal zeigt nun, welcher pathophysiologische Zusammenhang zwischen Therapie und der bisher meist tödlichen Erkrankung besteht.

 

PML, eine meist tödliche Virusinfektion bei geschwächtem Immunsystem

PML ist eine Virusinfektion, ausgelöst durch das JC-Virus, ein Polyomavirus. 80% der Bevölkerung haben Antikörper gegen dieses Virus, tragen somit das Virus in ihrem Körper ohne dass dies Symptome hervorruft. DasVirus „schläft“ in den Zellen der Niere und wird durch ein intaktes Immunsystem kontrolliert.

Kommt es zur Schwächung des Immunsystems (z.B. HIV-Infektion, medikamentöse Immunsuppression) kann das Virus insbesondere im Gehirn eine Erkrankung der weissen Substanz hervorrufen (PML). Die Erkrankung war früher sehr gut bekannt bei AIDS Patienten mit fortgeschrittener Immunschwäche (vgl. dazu unseren Bericht: „Die Progressive multifokale Leukenzephalopathie im Wandel der Zeit…„). Soeben ist auch ein Review im Lancet ID zur PML bei HIV-Infektion erschienen (Cinque et al, 2009).

Die Krankheitszeichen von PML sind Demenz, Krampfanfälle, aber auch Erblindung. Die meisten Patienten sterben 1 Jahr nach Diagnosestellung.

Natalizumab hemmt Migration von T-Lymphozyten

Bei Multipler Sklerose, einer Autoimmunerkrankung, in welcher T-Lymphozyten die Myelinscheide der körpereigenen Nervenfortsätze angreifen, soll die Therapie mit Natalizumab verhindern, dass diese autoreaktiven T-Zellen das Zentralnervensystem erreichen. Hierzu binden die infundierten (Natalizumab wird über die Vene verabreicht) VLA-4-Antikörper als alpha-4-Integrin Inhibitoren an die T-Zellen und verhindern die Migration durch die Gefässwand (siehe Abbildung 1)

Abbildung 1

Natalizumab bindet an VLA-4 und verhindert die Bindung von VCAM-1, Quelle: IMAJ 2005

Neue Studie: Natalizumab und JC-Virus

Ein israelisch-amerikanisches Forschungsteam (Chen Y et al.) untersuchte nun den Zusammenhang zwischen Natalizumab und der Entwicklung der PML. Während 1 1/2 Jahren wurden 19 MS-Patienten (3, 6, 12 und 18 Monate) unter Therapie mit Natalizumab untersucht. Sie Wissenschaftler fanden Erstaunliches:

Unter Natalizumab steigt nicht nur die JC-Viruskonzentration im Urin (siehe Abbildung 2) und im Blut (Plasma und PBMC). Auch die zelluläre Immunantwort gegen das Virus, gemessen mittels Elispot(R) verschlechtert sich nach 6 Monaten und der Genotyp des JC-Virus verändert sich so, dass der Eintritt in das Zentralnervensystem möglich wird (neurotroper, neurovirulent Genotyp). Untersuchungen im Liquor wurden nicht durchgeführt.

Abbildung 2

JC-Virus DNA, Nachweis im Urin, Quelle: NEJM 2009

Keiner der Studienpatienten entwickelte eine PML-Symptomatik, daher wurde die Therapie mit Natalizumab weitergeführt.

Endliche pathophysiologische Hinweise

Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag in der Aufdeckung dieser bedrückenden unerwünschten Wirkung von Natalizumab. Auch wenn sich daraus noch keine klaren Risikofaktoren für die Entwicklung einer PML ableiten lassen, enthüllen die Resultate erste pathophysiologische Zusammenhänge. Dies erlaubt die aktive Suche nach diagnostischen Möglichkeiten zur Identifizierung von Patienten mit Risiko für die Entwicklung einer PML.

In der gleichen Ausgabe des NEJM finden sich auch Hinweise auf therapeutische Möglichkeiten bei einer PML unter Natalizumab: Plasmapherese! Natalizumab muss aufgrund der langen Halbwertszeit (16 Tage) „ausgewaschen“ werden, damit das körpereigene Immunsystem die Kontrolle des JC-Virus wieder übernehmen kann (siehe Wenning et al, 2009 NEJM).