Alltag H1N1: Common cold – Als Kinderarzt im Dilemma zwischen Guidelines und Common sense
In der kinderärztlichen Praxis haben wir uns längst daran gewöhnt, dass immer mehr Tätigkeitsfelder durch Guidelines geregelt werden. Die H1N1 – Pandemie schlägt jedoch diesbezüglich alle Rekorde.Das BAG, die medizinischen Fachgesellschaften, die nationalen und lokalen infektiologischen Fachgruppen, die Impfgremien, die Kantonsärzte, die Kinderklinik , alle erlassen ihre Weisungen und Handlungsrichtlinien. Die praktizierenden Ärzte, welche diese Weisungen umzusetzen haben, sind bei der Erarbeitung der Richtlinien nicht gefragt.
An der Front der kinderärztlichen Praxis stehen wir bei den so häufigen, weil schlecht definierten „grippalen Krankheitsbildern“ oft im Dilemma zwischen Guideline und hausärztlichem Common sense. Dazu ein Beispiel aus der letzten Woche.
Ein 12 Monate alter, einst in der 28. Schwangerschaftswoche mit 1560 g frühgeborener Knabe, der neonatal 10 Wochen hospitalisiert war – davon 20 Tage mit mechanischer Atemunterstützung – und residueller Cerebralparese wird am 17.8.09 in der Praxis vorgestellt, nachdem er 24 Stunden zuvor muderig wurde, 38 Grad Fieber , eine wässrige Schnudernase und Husten entwickelte und eine unruhige Nacht hatte. Keine vorgängigen Kontakte mit grippal Erkrankten.
Bei der Untersuchung munter, gut trinkend, 38.1 Grad Fieber, wässriges Nasensekret, Respirationsrate 36, Puls 158, Rachen leicht gerötet, Trommelfelle reizlos, Lungenauskultation unauffällig, keine Dyspnoe, SpO2 93 %.
Aufgrund des Common sense hätte ich auf weitere Abklärungen verzichtet, die Mutter beraten und einen täglichen Verlaufsbericht gewünscht. Aufgrund der Guideline jedoch sah ich mich bei diesem high-risk Patienten gezwungen einen Abstrich vorzunehmen und eine Tamiflu-Behandlung einzuleiten. Da uns in der Praxis aber noch immer keine adaequate Medikamentenform zur Verfügung steht, erkundigte ich mich in der Kinderklinik. Von der erstkonsultierten Infektiologin wurde ich in meiner Guideline-getreuen Haltung unterstützt. Die Rücksprache mit ihrem Fachkollegen führte dann aber erstaunlicherweise zur Empfehlung zurückhaltend zu reagieren (keinen Abstrich vorzunehmen und auf eine Behandlung zu verzichten). Weil das klinische Bild eher dem Muster eines RSV- oder Rhinovirus-Infektes als einer Influenza entsprach, folgte ich dieser Empfehlung gerne.
Der weitere Verlauf rechtfertigte unser Vorgehen. Der Knabe blieb immer spielfreudig und bei gutem Appetit, entfieberte nach 48 Stunden, litt noch 3 Tage unter einer wässrigen Schnudernase und Husten, entwickelte aber keine Dyspnoe. Selbstverständlich blieb er dem Hort fern und die Eltern beachteten die BAG-Richtlinien für Kontaktpersonen.
Wie würden die Gutachter und der Richter urteilen, wenn die Krankheit einen fatalen Verlauf genommen hätte? Es würden wohl drei Galgen aufgestellt: Einer für den verantwortlichen Kinderarzt und zwei für seine Berater.
Arnold Bächler, Praxispädiater, St.Gallen