Setz dich nicht auf den kalten Boden
Führt Kälte zu Harnwegsinfekten? Wer ist gefährdet? Wirken Säfte und
wenn ja, welche? Von einfachen und komplizierten Harnwegsinfekten bis zum
Umgang mit Dauerkathetern.
Dr. Philippe Rafeiner, Kantonsspital St. Gallen / 26. Februar 2009
*deutsch
Angesichts der schönen Übersicht über das Thema Harnwegsinfekte mag man Philippe Rafeiner die leichte botanische Ungenauigkeit in der Übersetzung von Cranberry bei der Live-Präsentation verzeihen.
Epidemiologie:
Bis zu 60% der Frauen erleiden in ihrem Leben wenigstens einen Harnwegsinfekt (HWI). Betroffen sind vor allem junge, sexuell aktive Frauen (durschnittlich alle 2 Jahre ein HWI). Ein zweiter Gipfel findet sich bei den >80jährigen Frauen. 1/4 aller Frauen leidet unter rezidivierenden Harnwegsinfekten. Bei Kindern und Männern sind HWIs deutlich seltener. Nach den Atemwegsinfekten mit ca. 60% sind Harnwegsinfekt (v.a. Zystitis) mit 20% die zweithäufigste Indikation für die Verschreibung von Antibiotika in der Praxis.
Terminologie:
Ein HWI liegt bei der folgenden Trias vor: typische Symptome sowie Pyurie (Lc >10 Lc/mm3) und signifikante Keimzahl (>10^3-5) im Mittelstrahlurin (<10 Plattenepithelien pro Gesichtsfeld, ansonsten als kontaminert anzusehen). Unter einer asymptomatischen Bakteriurie versteht man eine signifikante Keimzahl ohne Symptome. Von rezidivierenden HWIs spricht man bei >2 HWI / 6 Monate (Symptome innert 2 Wochen nach Therapiestopp = Relapse, Symptome >2 Wochen nach Therapiestopp = Reinfektion).
Die Zystitis bei der gesunden, jungen Frau wird als unkomplizierter HWI bezeichnet. Als komplizierter HWI gelten: jeder HWI beim Mann oder in der Schwangerschaft, HWI bei strukturell oder funktionell abnormen Harnwegen, Pyelonephritis und Urosepsis, HWI bei Fremdmaterial (Katheter, Doppel-J) oder Diabetes/Immunsuppression.
Risikofaktoren:
In einer Norwegischen Fall-Kontroll-Studie wurden je 50 Patientinnen bezüglich vermuteter Ätiologie des Harnwegsinfekts befragt. Dabei kristallisierte sich mit einer OR von immerhin 5,5 das kalte Gesäss als möglicher Risikofaktor für rezidivierende HWIs heraus. In einer nicht minder amüsanten Studie entwickelten nach einem 30minütigen kalten Fussbad 6 von 29 "gesunden Frauen" (mindestens 3 unkomplizierte HWIs in den lezten 12 Monaten) innert 72h einen symptomatischen HWI (davon 5 mit Bakteriurie), verglichen mit 0/29 in der vorausgehenden Kontrollperiode.
In einer prospektiven Fall-Kontroll-Studie konnte für das Wasser lassen innert 1h nach GV kein protektiver Effekt bzgl. Harnwegsinfekten gezeigt werden.
Bei den <50jährigen Frauen konnten die folgenden Risikofaktoren bestätigt werden: vor allem kürzlicher GV (in den letzten 30d) und vor kurzem stattgehabter HWI, ferner die Verwendung von Diaphragma/Spermiciden, Diabetes mellitus, Urininkontinenz sowie ein positive FA betreffend HWIs bei der Mutter.
Bei den >50jährigen Frauen wurden ausserdem die folgenden Risikofaktoren identifiziert: postulierter Östrogen-Mangel, Restharn, Zystozele, Katheter, Non-Secreter bzgl. der ABO-Blutgruppen-Oberflächenmarker.
Prävention:
In einer Placebo-kontrollierten Studie konnte eine lokale Östrogenisierung das Auftreten von Harnwegsinfekten reduzieren. Die orale Östrogen-Einnahme zeigt offenbar nicht den gleichen Effekt. Eine Östrogen-Bestimmung zum Nachweis eines Mangels wurde allerdings in keiner der bisherigen Studien durchgeführt.
Für eine perorale oder vaginale Lactobacillus-Therapie zur Prophylaxe rezidivierender HWIs ist die Evidenz ungenügend. 7/11 kontrollierten randomisierten Studien (CTRs) bzgl. urogenitaler Infekte zeigten keinen Nutzen. Lediglich 1/4 Studien bzgl. HWI ergab einen positiven Effekt.
Demgegenüber erwies sich Cranberry-Saft verglichen mit Placebo bzw. Lactobacillus als protektiv bzgl. des Auftretens von HWIs (insgesamt 11 CRTs zwischen 1994 und 2009, mit zumeist positivem Effekt). Die grösste Evidenz besteht bei sexuell aktiven Frauen mit rezidivierenden HWIs (50%ige Risikoreduktion). Die Wirkung kann pathophysiologisch erklärt werden. Das im Cranberry-Saft enthaltene Polymer Proanthocyanidin verhindert die Adhäsion von Fimbrien von E. coli. Gleichzeitig werden im Darm nicht-adhärente E. coli selektioniert. Unklar ist, wieviel ml des offenbar auf die Dauer nicht unbedingt wohlschmeckenden Safts (nicht unerhebliche Zahl von drop outs) täglich getrunken werden müssen (bis zu ca. 800ml Cranberry-Saft, alternativ 50ml Konzentrat, Kapseln). Im Vergleich von Cranberry-Kapseln und Trimethoprim (prophylaktische Dosierung von 100mg/d) fand sich nach 6 Monaten bzgl. der HWI-Rate kein signifikanter Unterschied (jeweils ca. 30%).
Als evidenzbasierte Präventionsmassnahmen ist somit Folgendes anzusehen:
– 15-50jährige: Vermeidung von Diaphragma/Spermiciden
– 50-70jährige: lokale Östrogenisierung, Zystozelen-Sanierung
– >70jährige: Vermeidung der Katheterisierung
– E. coli bei sexuell Aktiven: Cranberry-Saft
In der Diskussion wurde auch Urovaxom erwähnt (lyophilisierte E. coli), welches ähnlich dem Bronchovaxom bei Atemwegsinfekten einen unspezifischen positiven Effekt auf die Immunantwort haben soll. Die Wirksamkeit bleibt jedoch umstritten.
Therapie:
Die vermehrte Hydrierung bei Harnwegsinfekten entpuppt sich als ein zweischneidiges Schwert. In der Niere wird dadurch das Bakterienwachstum gebremst, während es in der Blase begünstigt wird. Soll man jetzt nur bei Pyelonephritis empfehlen, viel zu trinken, und bei Zystitis nicht? Die Frage bleibt offen. Beim Menschen gibt es keine randomiserten Studien.
Ca. 90% der Harnwegsinfekte werden durch E. coli verursacht. Die antibiotische Therapie von Harnwegsinfekten hat auch ihre Schattenseiten: zunehmende Resistenzentwicklung, insbesondere das Auftreten von ESBL (extended spectrum beta-lactamase)-Bildnern, Notwendigkeit des Einsatzes von Reserveantibiotika, Zunahme von Clostridium difficile-assoziierter Diarrhoe (CDAD). Bezugnehmend auf eine 1997 in Basel-Stadt und Basel-Land durchgeführte Studie, wird in der Praxis ein akuter unkomplizierter HWI in 50% der Fälle mit Co-Trimoxazol und in 50% der Fälle mit Chinolonen behandelt. Gemäss IDSA-Guidelines ist die initiale empirische Therapie mit Chinolonen jedoch erst gerechtfertigt, wenn >10-20% der E. coli eine Co-Trimoxazol-Resistenz aufweisen. Auskunft über die aktuelle regionale Resistenzlage in der Schweiz gibt beispielsweise SEARCH (www.search.ifik.unibe.ch). 2007 waren in der Ostschweiz die isolierten uropathogenen E. coli noch zu 74,7% auf Co-Trimoxazol und zu 83,5% auf Ciprofloxacin sensibel. Die Resistenzlage bei den im IKMI St. Gallen isolierten E. coli ist vergleichbar. Bei der Interpretation dieser Resistenzdaten sind allerdings zwei Dinge zu beachten: Zum einen beinhaltet im SEARCH die Ostschweiz auch das Tessin und zum anderen handelt es sich bei den Proben nur um die Spitze des Eisberges, da bei jungen, gesunden Frauen mit akuter Zystitis in der Regel eine empirische Therapie ohne vorherigen Urikult erfolgt. Somit sollte die Resistenzrate insgesamt tiefer liegen. Diese Hypothese konnte in zwei in Hausarzpraxen der USA durchgeführten Studien bestätigt werden. Bei den gesunden Frauen zeigten sich 93 bzw. 85% der E. coli-Isolate gegenüber Co-Trimoxazol und 100 bzw. 98% gegenüber Ciprofloxacin sensibel. Demgegenüber waren ca. 30% der E. coli-Isolate im Unispital Maryland Co-Trimoxazol-resistent.
Somit scheint in der Praxis weiterhin eine empirische Intialtherapie der akuten Zystitis mit Co-Trimoxazol gerechtfertigt zu sein, zumal selbst bei bestehender Resistenz aufgrund der Aufkonzentrierung in den Harnwegen mit einer bakteriellen Eradikation und nicht zuletzt wegen einer gewissen Spontanheilungsrate mit einem klinischen Therapieansprechen gerechnet werden kann.
Der unkomplizierte HWI sollte mit 2x tgl. Co-Trimoxazol 800/160mg für 3d (alternativ Nitrofuran 2x100mg/d für 5(-7) Tage) behandelt werden. Die früher propagierte Einmaldosis von 3Tbl. Co-Trimoxazol 800/160mg wurde wegen einer weniger guten Erakdikationsrate verglichen mit einer 3-5tägigen Therapie wieder verlassen, könnte jedoch im Falle einer Selbstmedikation unmittelbar nach Auftreten erster Symptome oder bei rezidivierenden HWIs prophylaktisch postkoital durchaus ausreichen.
Demgegenüber sollte bei komplizierten HWI (ausser in der SS, dann Betalaktam) empirisch mit Ciproxin für in der Regel 14 Tage behandelt werden. In der Schwangerschaft, bei der Zystitis der Diabetikerin sowie evtl. auch einer unkomplizierten Pyelonephritis der Frau können auch 7 Tagen ausreichen.
Eine asymptomatische Bakteriurie suchen und behandeln, sollte man bei Schwangeren und vor urologischen Eingriffen mit Verletzung der Mucosa (v.a. TUR-P), nicht jedoch bei neurogenen Harnblasenstörungen, Dauerkatheterträgern, in der Geriatrie. Bei Nierentransplantierten, St.n. Transplantation anderer solider Organe sowie Immunsuppression ist die Indikation für ein Screening ungewiss.
Dauerkatheter:
Mancheiner mag versucht sein, bei einem DK-Träger mit stinkendem, grünlich-flockigen Urin mit Nachweis eines Ciproxin-sensiblen Pseudomonas eine Antibiotika-Therapie zu starten. Im Gegensatz zu einem 80jährigen DK-Träger mit Fieber und AZ-Verschlechterung ohne offensichtlichen Fokus (in 10% HWI), sollte man den erstgenannten Patienten aber nicht behandeln. Bis zu 20% der DKs sind bereits unmittelbar nach Insertion und 100% nach >28 Tagen kolonisiert, meist mit 2-3 Keimen. In 25% der Fälle ist nur der Katheter und nicht die Blase besiedelt. Bei DK-Einlage kommt es in 7-8% zu einer asymptomatischen, selbstlimitierenden, nicht behandlungspflichtigen Bakteriämie (wie auch beim Zähneputzen oder Kauen). Eine Prophylaxe bei DK-Wechsel ist deshalb nicht indiziert. Der Zeitpunkt für den DK-Wechsel sollte individuell festgelegt werden, idealerweise vor drohender Okklusion. Bei Infekt sollte der DK nach der Hälfte der Behandlungsdauer (ca. nach 7 Tagen) gewechselt werden. Suprapubische Katheter scheinen bezüglich des Infektrisikos günstiger zu sein als transurethrale. (Cave: Langjährige DK-Träger haben möglicherweise ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Blasenkarzinoms.)