Kontroverse um die schweizerische Drogenpolitik
Seit der Einführung der "Viersäulenpolitik" 1991 ist die Zahl der Heroinkonsumenten rückläufig. Eine Studie der Forscher Carlos Nordt und Rudolf Stohler von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, erschienen in der Fachzeitschrift "Lancet", befasst sich mit dem Thema. Darin kommen die unterschiedlichen Standpunkte der Befürworter und Gegner einer liberalen Drogenpolitik zum Ausdruck.
1975 verzeichnete man im Kanton Zürich 80 Fälle von Einsteigern in den Heroinkonsum. Bis zum Jahr 1990 erhöhter sich diese Zahl auf 850, um bis zum Jahr 2002 stetig fallend die Zahl von 150 Neu-Konsumenten zu erreichen, also eine Reduktion um 82% oder um den Faktor 4. Eine erfreuliche Entwicklung, besonders im Vergleich zu andern Ländern, die 1990 noch auf gleicher Höhe lagen wie die Schweiz und heute immer noch steigende Zahlen verzeichnen (s. Abb).
Für die beiden Forscher der Zürcher-Studie ist der Zusammenhang zwischen dieser positiven Entwicklung und der im Jahre 1991 eingeführten "Viersäulen-Drogenpolitik" erwiesen. Ebenso sind sie der Meinung, die Zahlen gelten nicht nur für den Kanton Zürich, wo ein Viertel der Drogenkonsumenten der Schweiz wohnt, sondern für die ganze Schweiz, also auch für rural strukturierte Regionen. Laut der Studie wendet sich die Hälfte der Heroinkonsumenten innerhalb von zwei Jahren nach dem Einstieg einem Methadonprogramm zu und erfüllen so ein wichtiges Teilziel der praktizierten Drogenpolitik (in Italien mit negativen Zahlen sind es vier Jahre). Trotzdem: Nur wenige Abhängige schaffen den Ausstieg. So beginnen zwei Drittel der Absolventen eines Methadonprogrammes innerhalb von zehn Jahren eine neue Therapie. Die Ausstiegsrate ist bescheiden, ebenso die Abnahme der Anzahl der Konsumierenden. 1996 lebten im Kanton Zürich 7100 Heroinkonsumenten, im Jahre 2005 waren es 6200.
Nordt und Stohler vermuten als Ursache u.a. den freien Zugang zu opioiden Ersatzstoffen, welche die Dauer der Abhängigkeit verlängern. Charakteristisch für das Thema Drogenpolitik in der Schweiz ist einmal die starke Abnahme der Einsteiger, dann die hohe Quote der Konsumenten, die kurzzeitig nach dem Einstieg eine Substitutionstherapie beginnen. Aber ebenso charakteristisch ist die bescheidene Ausstiegsrate. Als Gründe für die starke Abnahme der Einsteiger-Quote führt die Studie unterschiedliche Interpretationen an.
Die englischen Autoren des Editorials, Dritton und Frischer, meinen, die individuelle Abhängigkeit würde so oder so zehn Jahre dauern ("exactly 10 years"…). Für sie ist der starke Rückgang der Einsteiger-Quote dem gesellschaftlichen Druck, Verlust von Freundschaften etc. zu verdanken. Die Generationen-Theorie des Engländers Musto sieht die Gründe für den erfreulichen Rückgang darin, dass die junge Generation den Ablauf zwischen vergnüglichen Experimenten der Vorgeneration und den fatalen Konsequenzen durchschaut hat (social learning). Die Englischen Reviewer sehen also andere Gründe als die liberale Drogenpolitik für den Rückgang des Heroinkonsums.
Für die Zürcher Forscher ist das erfreuliche Ergebnis im wesentlichen der liberalen schweizerischen Drogenpolitik zu verdanken. Zu den Hauptkomponenten der 1991 eingeführten "Viersäulen-Drogenpolitik" gehörte die zunehmende Bedeutung von Therapiemöglichkeiten und "harm-reduction".measures. Die Schweizer Bevölkerung unterstütze diese Politik. Die Folge davon: Die Medikalisierung verändert das Image des Heroinkonsums, weg vom rebellischen Akt zur Krankheit, die therapiert werden muss, für Jugendliche eine zunehmend unattraktive "Loser-Droge".
Carlos Nordt und Rudolf Stohler schreiben in ihrer Studie: Die Befürchtungen der Gegner eine liberalen Drogenpolitik würde zu einer Verharmlosung des Heroinkonsums und damit zur Verbreitung der Sucht beitragen, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die "Viersäulen-Drogenpolitik" hat sowohl die Situation des einzelnen Betroffenen wie auch der ganzen Bevölkerung verbessert. Es gibt weniger Konsumenten, weniger Drogentote, und die Drogen-Kriminalitätsrate ist gefallen.
Wenn man die beil. Abbildung aus der Publikation mit dem Verlauf der Inzidenz von Drogeneinsteigern in verschiedenen Ländern betrachtet, so hat man schon den Eindruck, dass die Schweiz um 1990 einen grossen Effort leistete und den Lauf der Entwicklung dramatisch zum Besseren verändert hat.
Quellen:
Nordt und Stohler, Lancet 2006; 367:1830-1834
Editorial von Hickman et al, Lancet 2006; 367:1797-1798
Ein weiterer Artikel in "Sozial- und Präventivmedizin" der Autoren Nordt und Stohler aus dem Jahre 2004 hat auch der Methadonabgabe in Schweizer Arztpraxen ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Insgesamt würden diese Programme der gesamten Strategie dienlich sein.