Chronisches Müdigkeitssyndrom – Krankheit oder Faulheit?
Als das BMJ im Oktober 2004 das Autreten des Chronischen Müdigkeitssyndromes (chronic fatigue syndrome) mit geringer körperlicher Aktivität im Kindesalter assoziierte, brach ein Sturm der Entrüstung unter betroffenen Lesern – zum Teil selbst Ärzte – los. Sie fühlten sich als Faulpelze diffamiert. Sie selbst sehen sich als Opfer einer kryptischen Krankheit, die sie häufig mit Infekten in Verbindung bringen..
Seit mehr als 250 Jahren findet man unter unterschiedlichsten Bezeichnungen Beschreibungen von Menschen, die unter chronischer Müdigkeit leiden. Die vermutete Ursache unterliegt gewissen Strömungen. So wurde in den 30er bis 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eine chronische Brucellose angenommen, später folgten Hypoglykämien, dann chronische EBV-Infektion, Borreliose, Total Allergy Syndrome und chronische Candidose. Das Problem ist häufig: bis zu 10% der Patienten in hausärztlichen Praxen leiden unter chronischer Müdigkeit. Oft sind es Frauen im jungen und mittleren Erwachsenenalter, die sich nach banalen grippalen oder gastrointestinalen Infekten nicht mehr erholen. Neben unerklärter Müdigkeit werden Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen sowie Arthralgien beklagt (s. Diagnosekriterien CDC 1994). Körperliche Aktivität verschlechtert die Beschwerden und Schlaf bringt keine Erholung.
Und die Ursache?
Wie bereits erwähnt, sehen viele Patienten einen zeitlichen Zusammenhang mit Infektionen. Als "Schuldiger" bot sich u.a. das EBV-Virus, das lebenslang persistiert an. Allerdings sind die serologischen Befunde der Patienten oft unspezifisch und in zahlreichen Studien fand sich kein schlüssiger Zusammenhang zwischen EBV-Serologie und chronic fatigue syndrome. Auch im Hinblick auf andere Erreger (Retroviren, HHV-6, Enteroviren, Borrelien, Coxsackie-B) gibt es trotz redlichen Bemühens keinerlei wissenschaftliche Beweise für einen ätiologischen Zusammenhang mit CFS.
Wenn nun keine persistierende Infektion verantwortlich ist, könnte es dann einer fehlerhaften Immunantwort liegen, dass die Erholung nach einem Infekt ausbleibt? In der Tat wurde eine Vielzahl von Befunden erhoben, die auf eine Immundysfunktion deuten. Unter anderem findet man erniedrigte Konzentrationen und verminderte Funktionstüchtigkeit der NK-Zellen, erhöhte Interferon- und IL-2-Aktivität und eine veränderte CD4/CD8-Ratio. Allerdings war das Ausmass dieser Veränderungen z.T. nur diskret. In einer Fall-Kontroll-Studie (J Infect Dis1997, 175:136) fand sich kein Unterschied zwischen CFS-Patienten und Kontrollen. Eine echte Immunschwäche besteht auch klinisch nicht, allenfalls kann man von einer milden Immundysregulation unklarer pathogenetischer Relevanz ausgehen. Möglicherweise triggert die Immunreaktion auf eine Infektion durch z.B. Cytokine eine vermehrte Müdigkeit. Nach Adler ist auch denkbar, dass durch eine Infektion die Fähigkeit, mit psychischem Stress umzugehen, vermindert wird oder dass gestresste Personen anfälliger für Infektionen werden.
Auch Untersuchungen der endokrinen und metabolischen Funktionen ergaben keine eindeutigen Ursachen. Wiederum fanden sich diskrete Abnormalitäten der Cortisolsekretion sowie der serotoninergen Aktivität. Diese sind jedoch inkonstant und zudem nicht spezifisch für CFS, sondern finden sich auch bei Fibromyalgie und Depressionen. In unkontrollierten Untersuchungen ergaben sich Hinweise auf eine Dysfunktion des sympathischen Systems mit positivem Kipptisch-Versuch. Wiederum konnten die Ergebnisse in kontrollierten Studien nicht bestätigt werden.
Also doch eine Depression?
Bei ca. 2/3 der CFS-Patienten sind die Kriterien für Angststörungen und Depressionen erfüllt – doch was ist Henne, was ist Ei? Es erscheint ja verständlich, dass jemand, der in seiner Aktivität durch ein mysteriöses Syndrom stark eingeschränkt ist, mit depressiven Symptomen reagiert. Im oben erwähnten Artikel im BMJ fand sich ein Zusammenhang mit geringer körperlicher Aktivität im Kindesalter, der aber keineswegs bei allen Betroffenen zu sehen ist. Zum Teil handelt es sich eben gerade um sehr aktive Menschen. Adler vermutet in seinem Artikel in Swiss medical Weekly, dass bei hoch gesetztem Anspruch an sich selbst die Betroffenen mit Entwicklung eines chronischen Müdigkeitssyndroms reagieren anstatt die Ziele niedriger zu stecken. Das würde auch gut zu der z.T. überraschenden Gleichgültigkeit passen, mit der die Patienten ihr Schicksal schildern.
Fest steht jedenfalls, dass eine psychiatrische Anamnese und die vom Arzt bestätigte Überzeugung des Patienten, dass ein Virusinfekt für die Symptome verantwortlich ist, prädiktiv für die Entwicklung eines CFS sind.
Was tun in der Diagnostik?
Zunächst müssen die oben bereits erwähnten Diagnosekriterien erfüllt sein. Neben gründlicher Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung sollten ein Blutbild mit Differenzierung, eine BSR, Chemie-Screen und TSH abgenommen werden. Teure immunologische oder serologische Tests sind sicher nicht sinnvoll, wenn sich aus Anamnese und klinischer Untersuchung keine spezifischen Hinweise ergeben.
Müdigkeit findet sich auch bei anderen Erkrankungen, wie Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie usw, so dass eine beträchtliche Überlappung besteht (s. Adler, R., SMW 2004).
Und die Behandlung?
Genauso viele Ansätze wie in der Ursachenforschung gibt es auch in der Therapie des CFS. Ausruhen hat keinen positiven Effekt, im Gegenteil führt es zu einer Dekonditionierung und verschlechtert so die Symptomatik. Steroide, Acyclovir, Magnesium und Nachtkerzenöl sowie Immunglobuline wurden ohne durchschlagenden Erfolg versucht. Eine gewisse Verbesserung kann durch stufenweise aerobe Übungen erzielt werden, die verhindern, dass es durch Inaktivität zu einer Abnahme der Leistungsfähigkeit führt. Bei positivem Kipptischversuch kann Atenolol mit oder ohne Fludrocortison in ansteigender Dosis versucht werden, allerdings sollte der Patient informiert sein, dass es sich nicht um eine etablierte Therapie handelt.Am besten belegt ist der Erfolg einer Verhaltenstherapie, die am besten in spezialisierten Zentren durchgeführt wird, denn dann ist der Erfolg am grössten. Dabei wird versucht, die Überzeugungen der Patienten im Hinblick aus Art und Ursache der Erkrankung zu verändern. Wichtig ist, den Patienten ernst zu nehmen und sein Anliegen nicht als Rentenbegehren zu disqualifizieren. Spezifische Krankheitsängste (Angst vor Krebs oder HIV) sollten konkret angesprochen werden. Dabei kann man die lange Historie des CFS erwähnen und betonen, dass sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet besteht. Die Gegenüberstellung organischer vs nichtorganischer Erkrankungen hilft meist nicht weiter, denn aktuell kennen wir die definitive Ursache der Erkrankung noch nicht.
Was wird aus den Betroffenen?
Auch das ist noch unklar. Die Kurzzeitprognose ist im allgemeinen schlecht, das heisst, die Patienten mit CFS brauchen Geduld. Eine komplette Heilung ist wahrscheinlich selten, eine deutliche Verbesserung der Symptome allerdings häufig. Eine schlechte Prognose besteht bei längerer Erkrankungsdauer, Patienten >38 Jahre sowie langer Vorgeschichte dysthymischer Symptome. Man sollte die Patienten jedoch klar darauf hinweisen, dass diese Erkrankung praktisch immer gutartig verläuft und mit der Zeit spontan verschwindet.